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Angelika Janz im August 2009

Die Fliege

 

Scheitern ist der Normalfall, das war ihr Lebensmotto.


Mit diesem Satz in ihrem geistigen Gepäck konnte ihr ernsthaft nichts passieren. Und nun hielt sie den Brief in Händen: Sie gehören zum Kreis der Auserwählten. Sie dürfen. Kommen Sie. Finden Sie sich ein, zeigen Sie Ihr Innerstes, empfangen Sie. Dann dürfen Sie gehen. Mit einer neuen Zeile in Ihrer Biografie. Sie weinte ein bisschen. Die Nacht davor träumte sie den Verlust ihrer Mappe. Sie rekonstruierte, wachte laut rezitierend auf, doch die Texte waren ihr fremd. Erwog am Morgen, nicht hinzugehen. Es war Frühling, aber die Luft war noch kalt. Sie trug Jeans und ihr geliebtes Seemannshemd. Braune Bergziege mit Klappverschlüssen, die immer aufsprangen. Mappe und Bergziege, darüber den kurzen, leichten Pelzmantel ihrer Großmutter, dazu ihr immer trauriges Gesicht. Die lange Zugfahrt, der nicht enden wollende Weg durch die Betonstadt zum Ort der Austragung. Ein Museum. Die Bilder aus den 20er Jahren an den Wänden trösteten sie. Farbige Spiegel, geheimnisvolle Schattenspiele ihrer Seele. Im Foyer blickte sie in 1000 lächelnde Gesichter. Sie sah in tausend skeptische, in tausend abweisende Gesichter. Eines von ihnen, eines der ganz großen, bekannten, die sich überall durchsetzen, ein Professorengesicht, älter als sie. Sie kannten sich. Er hatte nicht einmal ein Nicken für sie übrig. Sie schwitzte, aber blieb umhüllt von Großmutters Bergziege. Die Masse teilte sich, verteilte sich auf 2 ordentlich aufgestellte Stuhlreihen im angrenzenden Saal. Die Saaltüren schlossen sich. Sie wartete vor einer abstrakten Skulptur, allein, die Mappe in der Hand. Die Blätter darin waren fast weiß, nur der obere Bereich war mit ein paar Zeilen einer mechanischen Schreibmaschine bedeckt, der statt der Punkte und Kommata Löcher im Papier zeigte. Die Lautsprecherstimme, sie hörte ihren Namen fremd aus fremdem Mund. Die Bilder neigten sich ihr zu, als sie sie passierte.


Durch den vollbesetzten Saal erreichte sie das Pult. Im Wasserglas schwamm eine Fliege, in kurzen Abständen mit blaugrün schillernden Flügeln um ihr Leben zappelnd. Sie hielt ihren Zeigefinger in das Glas, die Fliege krabbelte auf die Fingerspitze. Sie wartete, bis das Insekt mit Vorder- und Hinterbeinen seine Flügel gebürstet hatte. Man flüsterte, einige räusperten sich. Ein kurzes Lachen ganz hinten. Der Lautsprecher wiederholte ihren Namen. Da flog die Fliege auf und stürzte sich in die dunkle Masse der Gesichter. Sie öffnete die Mappe, sortierte die Blätter. Doch sie las die Texte nicht ab. Sie schaute in die 1000 skeptischen, freundlichen und feindlichen Gesichter. Ganz vorne das populäre Professorengesicht, undurchdringlich und grau. Seinen dünnlippigen Mund umspielte ein zynisches Lächeln, als sie ihn und dann die anderen ansah und zu sprechen begann. Grell schien die Sonne durch die großen blankgeputzten Scheiben. Die Fliege würde im rasanten Flug irgendwann dagegen stürzen. Sie sprach die Texte auswendig. Sprach in die tausend Gesichter. Ihre Stimme war ernst, trocken, gut hörbar, die Worte artikuliert, der Text so fremd, dass die Gesichter plötzlich alle zugleich ins Neugierige, ja, Sensationsgierige entgleisten und ihre Gestalt zu fixieren begannen. Als sie nach 20 Minuten abrupt abbrach, war es still im Saal. Niemand klatschte. Im grellen Vormittagslicht ging sie, umhüllt von Großmutters Bergziege, an den tausend immer noch stummen Zuhörern vorbei. Man sah ihr nach, und nun ging sie eine Treppe hinab. Die Bilder neigten sich ihr zu.


Draußen wartete sie. Sie sah auf die befahrene Straße, roch die Abgase. Hier und da verließ jemand das Gebäude. Jetzt war sie unsichtbar. Sie hörte, wie die Lautsprecherstimme den Namen des Professors aufrief. Scheitern ist der Normalfall, sagte sie und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Ein schwarzer Mercedes hielt vor dem Museum. Der Oberbürgermeister der großen Stadt steuerte – in Begleitung zweier schwarzer Anzüge – auf den Eingang zu, den sie halb versperrte.  Sie trat beiseite, man übersah sie. Sie spürte den parfümierten Luftzug, den die Männergestalten im Passieren verursachten. Die verächtlichen Blicke der schwarzen Anzüge gefielen ihr. Sie machte eine abwehrende Bewegung, die niemand mehr vernahm.


Dann hörte sie noch einmal ihren Namen aus dem Lautsprecher. Jemand nahm sie unwirsch beim Arm und zwang sie, den Saal erneut zu betreten, vorbei an den 1000 lächelnden, von Neugier gebrochenen Gesichtern, die sie als Masken in Erinnerung behalten würde, hinter denen nichts mehr zu lesen blieb. Vorne stand der Bürgermeister und sah ihr erwartungsvoll entgegen. Erkannte er sie wieder? Er las etwas über ihre Person von Blatt ab, die schwarzen Anzüge blickten teilnahmslos zu Boden. Das Wasserglas stand noch immer auf dem Pult und die buntschillernde Fliege zappelte schon wieder darin. Sie griff mit der linken Hand nach dem Glas, der Bürgermeister, irritiert, trat zur Seite. Ihre Mappe hatte sie auf dem Pult abgelegt. Sie lächelte ihn an. Wie heiß es unter der Bergziege war! Mit dem rechten Zeigefinger fischte sie vorsichtig die Fliege heraus. Diesmal galt es, sich aus einem um den Leib haftenden Wassertropfen herauszukämpfen. Sie stellte das Glas auf das Rednerpult und sah auf ihren Zeigefinger. "Erster Preis", donnerte die Stimme und der Saal dröhnte vor Beifall. Die Fliege taumelte zurück in die dunkle Masse. In ihrer Hand lag eine altmodisch gestaltete Urkunde. Wieder vernahm sie die Lautsprecherstimme, die den Namen des Professors transportierte und triumphierend mit "zweiter Preis!" abschloss. Sein hasserfülltes Gesicht kam näher. Sie verstaute die Urkunde in der Mappe. Ein Surren und Sirren schmückte das atemlose Schweigen der tausend Gesichter. Sie blickte zu den blankgeputzten Scheiben hinauf und lächelte zum dritten Mal an diesem Tage.


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