Zur Pressemeldung vom 21.6.2020 (Lyrikzeitung & Fixpoetry)

21.Nahbell-Hauptpreis an: SIGUNE SCHNABEL (und...)

"DIE VERGÄNGLICHKEIT DES EINSSEINS"

(Eine Haltung, die mit dem Wesentlichen in Kontakt bringt)

Das große NAHBELL-Interview 2020

 

Geboren 1981 in Filderstadt, wuchs in einer anthroposophischen Großfamilie bei Stuttgart auf. Nachdem sie sich von der Zeitungsausträgerin zur Vollzeit-Zeitungsausträgerin hochgearbeitet hatte, studierte sie in Düsseldorf Literaturübersetzen. Ihr Lyrik-Debüt "Apfeltage regnen" erschien 2017 im Geest-Verlag, gefolgt von "Spuren vergessener Zweige" im Mai 2019. / Gedichtbeispiele im POESIESALON.DE und bei FIXPOETRY.COM

 


 

1.NAHBELLFRAGE


Liebe Sigune, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zum 21.Nahbellpreis! Du bist mit Jahrgang 1981 zu einer Zeit geboren, als die andere Preisträgerin Stefanie Schulte-Rolfes, bereits ihre ersten Gedichte schrieb, während der Förderpreisträger Oskar Kabel noch gar nicht geboren war. Dein Debutband erschien aber erst 2017 im Alter von 36, wenn so mancher Dichter bereits zum alten Eisen gehört. Und Du bist ja anscheinend ein regelrechter "shooting star"; denn Dir wurden dann gleich mehrere Preise kurz hintereinander verliehen? Hattest Du mit einem derartigen Blitzerfolg gerechnet? Wie kam es zu diesem späten Debut und von wann stammt dein frühestes "gutes" Gedicht? Könntest Du es uns hier zum Lesen geben?

 


1.NAHBELLANTWORT


Lieber Tom, vielen Dank, so eine Nachricht ist mitten in der Corona-Krise eine Ermutigung weiterzumachen. Ich habe schon früh angefangen zu schreiben, allerdings relativ spät öffentlich. Meine ersten Bemühungen, eigene Texte auf Publikumswirkung zu testen, begannen 2003 auf jetzt.de, der Jugendseite der Süddeutschen Zeitung. Dort versammelten sich Gleichgesinnte, darunter viele, die sich auf die ein oder andere Weise als anders empfanden, und es entstand eine kleine Gemeinschaft, eine Art zu Hause der Suchenden, wie ich es später nie wieder im Internet erlebt habe. Mit Gedichten im heutigen Stil begann ich allerdings erst zehn Jahre später. Ab 2014 beteiligte ich mich aktiv an Projekten und konnte bald darauf die erste Veröffentlichung in einer Literaturzeitschrift vorweisen, den Düsseldorfer Asphaltspuren, die es inzwischen leider nicht mehr gibt. Zu meinem Debütband führte eine Reihe von Zufällen. 2015 hatte ich das Glück, zu einem Workshop im Rahmen des Brüggener Literaturherbstes eingeladen zu werden. Dort las ich das erste Mal vor einem Publikum und lernte meinen späteren Verleger kennen. Bis zur Buchveröffentlichung sollte es jedoch noch zwei weitere Jahre dauern. Eine Rolle spielte dabei ein Wettbewerb, bei dem ich den ersten Preis gewonnen hatte. Dass damals mehrere Auszeichnungen in einer Reihe folgten, ist ein Phänomen des Literaturbetriebs, das ich noch nicht durchschaut habe. Ich habe oft beobachtet, dass sich bestimmte Namen in den Preisträger-Listen wiederholen und dass es solche Phasen in einigen Künstler-Lebensläufen gibt. Ob es Glück ist, Zufall oder mit dem Nerv der Zeit zu tun hat – das Urteil darüber überlasse ich anderen. Ich selbst hatte anfangs das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. Durch die Preise fühlte ich mich immer mehr akzeptiert und "angekommen", zwar fernab des Mainstreams, aber es war auch nie mein Ziel, meine Texte an Trends auszurichten. Das früheste Gedicht, das von mir noch existiert, habe ich für meine Puppe geschrieben. Ich muss ungefähr acht gewesen sein. Das zweite noch erhaltene stammt von meinem vierzehnjährigen Ich, das sich mitten in der Pubertät befand. Beide fallen wahrscheinlich nicht unter die Kategorie "gut", deshalb zitiere ich einen meiner Versuche aus dem Jahr 2013.

 

Mutter


Sie schnitt Buchstaben aus mir heraus,
die leise und unbemerkt
rote Gedichte tanzten.
Im Herbstwind fielen sie ihr zu Füßen
und raschelten Zerfall.
Seitdem trägt mein Name Löcher.


Ich zählte mich an fünf Fingern ab
und pflanzte meine Reste ins Blumenbeet.
Manchmal gießt sie Wasser hinein,
während aus ihrem Mund leise der Schnee rieselt:
Eingefroren und unter Eis gelegt,
harre ich
wurzellos,


dabei wollte sie mir nur
Wachstum einhauchen.


2.NAHBELLFRAGE

 

Oh, von den Asphaltspuren habe ich leider gar nichts mitbekommen, obwohl ich seit 2012 in Düsseldorf wohne, und anfangs sogar für kurze Zeit Taxichauffeur war und darüber "Taxilyrik" verfasste, das hätte ja gut in solch ein Magazin vom Namen her gepasst... Für dieses Phänomen des Literaturbetriebs, dass man am Anfang eines Jahres den ersten Preis erhält und dann die restlichen schnellstmöglich hintergeschoben bekommt, habe ich eine simple Erklärung: jede Institution erhöht ihr eigenes Renommee, indem sie sich selbst mit einem Preisträger schmückt, was so viel heißt wie: der Autor an sich bzw. seine Werke sind nebensächlich, ja überflüssig - Hauptsache, die Presse springt auf die Meldung an, weil es sensationell klingt, dass man einem Star einen weiteren Stern verleiht. Insofern ist eigentlich immer nur der allererste Preisstifter wirklich mutig, weil er mit noch keiner Referenz "beweisen" kann, dass seine Entscheidung berechtigt ist, und der Autor noch nicht dazu mißbraucht wird, die eigene Stiftung zu bewerben! Das ist jetzt natürlich absichtlich total bösartig überspitzt dargestellt, fast verschwörerisch, und wirft kein gutes Licht auf die Qualität der Dichtung. Andererseits weiss ja auch niemand wissenschaftlich objektiv, was ein "gutes" Gedicht ist, so dass jede Bewertung vom persönlichen Geschmack zeugt, bestenfalls mit einigen allgemein unverfänglichen lyriktheoretischen Argumenten garniert werden kann. Dein 2013er Gedicht "Mutter" hat mich zum Beispiel beim Lesen so tief berührt, dass ich schlucken, beinahe weinen musste - obwohl ich das gar nicht vom Inhalt her logisch erklären kann! Kein einziges Deiner Gedichte bei der Lesung mit Harfe, bei der ich Dich erstmals live hörte, hat mich derart umgehauen, im Gegenteil: mir erschienen Deine Gedichte zu konventionell, zu lieblich, blumig, nett. Und dann das! Es hat mir gezeigt, dass ich in verschiedenen Launen auch ganz unterschiedlich auf denselben Stil reagieren kann, bis hin dazu, dass mir jetzt erst bewusst wurde, was ich genau an Deinen Gedichten mag und schätze: sie wirken tatsächlich auf den ersten Blick lieblich, aber das ist ein Trick, eine Falle, und wenn ich erstmal in die Falle gestolpert bin, kommt ein psychologisches Monster, dem ich mich nicht mehr entziehen kann. Und dann lese ich das Gedicht plötzlich immer wieder, weil es etwas anrührt, das tiefer geht als das schnelle Querlesen, eine Seite in der eigenen Seele zum Schwingen bringt, die man selber nicht kannte, also überrumpelt wird von einem Überraschungseffekt, den man beim besten Willen nicht vorher ahnte. Besonders wenn man Dich als Mensch dazu erlebt: Du hast ja tatsächlich in persona etwas Liebliches in Deiner Ausstrahlung, eine Freundlichkeit und scheinbare Unschuld, die einen nicht damit rechnen lässt, was dann Nachdenkliches mit lieblicher Harfenmusik unterstützt kommen könnte! An einem Gedichtbeispiel möchte ich das verdeutlichen:


Mauern


Als ich in deinem Schatten saß,
lag noch Schnee auf den Bergen.
Von den Grashalmen zitterte der Tau
auf deine Hand.
Du flochtest Geduldsfäden
in dein Haar,
und aus deinem Mund sprangen Grillen.
Keine streifte mich
in dieser Vormärzsonne,
als ich meine Finger zwischen Halmen verbarg.


Unsere Lippen hielten einander
nicht Wort.
Am Abend schlich das Schweigen
als Raubtier aus den Büschen.
Zwischen zwei Genickbissen
liebten wir uns manchmal
oder wir stiegen
unter rauchigem Himmel
auf Mauern,
die von innen
an die Schädeldecke stießen.


Das ist wahnsinnig existenziell, obwohl es so harmlos daherkommt! Deine Dichtung ist voller synästhetischer Metaphern, sie quillt über vor lauter Farben und symbolischer Landschaft! Du hast in Deiner ersten Antwort angedeutet, dass Du aber "so" erst seit 2013 schreibst, also beginnend mit dem Text "Mutter"? Wie anders war denn Dein Stil vorher und wodurch kam die stilistische Wende? Gab es eine Lebenskrise oder einen Schicksalsschlag?

 

2.NAHBELLANTWORT


Ich denke, die Kombination von Lyrik und Harfe unterstützt eine bestimmte Lesart und lässt schnell über die Brüche und das eigentlich Interessante hinweghören. Somit ist diese Art des Auftritts auch eine Gefahr. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Zuhörer mehr bei der Sache bleiben, wenn ich meine Lesungen mit Musik kombiniere. Zum einen bringe ich auf diese Weise Abwechslung in den Ablauf, zum anderen schaffe ich für die Worte einen Raum, in dem sie noch nachhallen können. Dieser Rahmen drängt aber dem Zuhörer durch die Stimmung, die von der Harfe ausgeht, schnell den Eindruck des Lieblichen auf, legt von der Musik etwas in die Texte, was beim stillen Lesen gar nicht überwiegt. Thematisch interessieren mich in erster Linie das Gescheiterte im Leben, das Zerbrochene oder auch die feinen, kaum merklichen Veränderungen in einer Beziehung, die sich schleichend in die Kommunikation mischen. Dieses Trennende, Vergebliche bette ich gerne in eine Landschaft, die einerseits Spiegel sein kann, andererseits Ausdruck einer Entfremdung. Das kindliche Einssein von Ich und Welt geht im Lauf der Zeit verloren. Mein lyrisches Ich sucht immer wieder einen Ersatz dafür in menschlichen Beziehungen und scheitert dabei, denn sie unterliegen den gleichen Mechanismen der Vergänglichkeit. Was bleibt, ist eine Leerstelle oder ein Schweigen. Im Mittelpunkt steht also die Frage: Was ist es, was diesen zerstörerischen Prozess in Gang bringt? Können wir ihn rechtzeitig bemerken und verhindern? Bevor ich 2013 anfing, meinen heutigen Stil zu entwickeln, hatte ich eine längere Schaffenspause. Zuvor konzentrierte ich mich auf Prosa, vor allem autobiografischer Art, häufig in der Form von Kolumnen. Allerdings driftete ich auch da oft in lyrische Passagen ab. Heute passt die Form des Gedichtes am besten zu meinem Alltag, da sie einen Kontrast zur Hektik des Berufslebens bildet und sich gut eignet, um innezuhalten. Sie geht mit einer Haltung einher, die mich wieder näher mit dem Wesentlichen in Kontakt bringt. Hinzu kommt, dass ich schon immer mehr einen Blick für Details hatte, wie es für die Lyrik von zentraler Bedeutung ist. In der siebten Klasse verzweifelte ich regelrecht, als ich ein Referat über die Landschaftsveränderungen im Lauf einer Wanderung halten musste. Ich hatte mich nicht darauf konzentriert, kein Eindruck war hängengeblieben – dafür fand ich aber jeden Pfennig, der vor meinen Füßen auf dem Boden lag, und jedes Stück Holz im Wald, das eine ungewöhnliche Form hatte. Noch heute steht bei meiner Großmutter eine Wurzel, die aussieht wie eine Ente.

 

3.NAHBELLFRAGE


Dieses Wesentliche ist für Dich also das verloren gegangene Einssein von Ich und Welt, wenn ich es richtig verstehe, und darüber hinaus, diese Entfremdung auch zwischen Menschen zu erkennen und sogar rechtzeitig verhindern zu wollen, bevor sie der unwiderruflichen Vergänglichkeit zum Opfer fallen? Das sind wahrhaftig große Fragen wohl aller Menschen, die noch zu tieferer Sehnsucht fähig sind! Hast du solche paradiesischen Erfahrungen in Form von Liebesgedichten verarbeitet, in denen die Liebe zumindest ansatzweise funktioniert? Oder liegt der Schwerpunkt Deiner Themen ausschließlich auf dem Scheitern? Wie weit bist Du sowohl analytisch als auch poetisch gekommen bei dem Versuch, diesen "zerstörerischen Prozess" zu verstehen - und zu vermeiden?

 

3.NAHBELLANTWORT


Ich würde es noch allgemeiner formulieren: Das Wesentliche ist für mich, dass es nicht zu einer Entfremdung vom eigenen Leben kommt. Das ist in einer Welt, in der Beschleunigung und Funktionieren in der Regel den Alltag beherrschen, manchmal eine Herausforderung. Und da hilft die Lyrik, weil sie nur beim Leser ankommt, wenn er innehält und entschleunigt. Man muss sich ihr ganz öffnen, für die Nuancen und Emotionen darin zugänglich machen – und dabei die lineare Zeit und Leistungsorientierung vergessen. Wahrscheinlich ist sie auch deswegen heutzutage so wenig beliebt: weil viele Menschen nicht mehr dazu in der Lage sind. Bei den meisten meiner Liebesgedichte, die vom Anfang handeln, finden das Ich und Du nicht zueinander. Gelingt es doch einmal, ist die Außenwelt das Bedrohliche, wie das folgende Beispiel zeigt:


Unter die Haut


Es gibt einen Raum unter deiner Haut,
in dem die Zeiger stehen.
Dort rennt das Glück
die Adern entlang.
Manchmal,
wenn sich die Welt
vollgesogen hat
mit Regen,
dass sie sich an den Rändern einrollt;
wenn ich ihre Geschichte
glatt ziehen muss,
um sie zu lesen –
manchmal werden meine Schritte groß
und springen
aus den Umrissen
meiner Existenz
unter deine Haut.


Ich denke, man muss es akzeptieren, dass das Leben – und eben auch das Glück – etwas Flüchtiges sind. Im Zwischenmenschlichen lassen sich die Mechanismen bis zu einem gewissen Grad erkennen und durchbrechen. Den Zerfall als solches können wir jedoch nicht aufhalten. Mit den Worten eines meiner Gedichte: "Wenn die Zeit / an der Erdkugel dreht, / berühren ihre Finger / zwei Punkte. / Manchmal höre ich / unter den Kuppen / Zweige knacken." Dieses Knacken wird es immer geben bis zum letzten Ende. Wir können nur versuchen, ihm etwas entgegenzusetzen.

 

4.NAHBELLFRAGE


Das österreichische Magazin "perspektive" bittet ja aktuell um Beiträge für die Jubiläumsausgabe p100/101 zur Frage "Wozu Literatur?" *A) Haben für Dich also Gedichte die Funktion (in Anlehnung an Hilde Domins Buch von 1968: "Wozu Lyrik heute", ohne Fragezeichen), uns an die Kostbarkeit des flüchtigen Glücks zu erinnern? *B) Welche weiteren Aufgaben erfüllt die Poesie heutzutage für Dich? *C) Darf sie explizit gesellschaftskritisch sein - oder gleitet sie dann ab in plumpe Politlyrik? *D) Soll sie sehr subjektiv bleiben, nur das eigene Ich umkreisen - oder unterkühlt metaphysisch abstrakt? *E) Gibt es den Unterschied zwischen lyrischem und biografischem Ich - oder war das nur eine literaturtheoretische Illusion? *F) Muss Poesie eine Vision oder Utopie für die Menschheit aufzeigen? Oder sollte sie lieber etwas bescheidener von Gemüse und Landschaft handeln? *G) Darf sie überhaupt so metaphernverliebt sein wie bei Dir? Oder rückt Poesie dann stilistisch zu leicht in die Nähe von Kitsch bzw. wie lässt sich das dann trotzdem verhindern? *H) Ist "gute" Lyrik immer hermetisch oder erst dann am besten, wenn sie möglichst "lesbare", zugängliche, leichte Kost darstellt? Oder ist dieses gegeneinander Ausspielen tatsächlich anachronistisch? Axel Kutsch spricht im aktuellen Fixpoetry-Interview anlässlich der Versetze_13 von der zeitgenössischen Polyphonie und der großen Bandbreite zwischen Schwarzbrot und Feinkost:


>>Da es mir auch darum geht, unsere heutige Lyrik mit ihrem ganzen Facettenreichtum vorzustellen, wirkt die Auswahl wohl auf manch einen beliebig - vielleicht auch deshalb, weil ich nicht nur lyrische Feinkost, sondern hier und da auch einfaches Schwarzbrot anbiete. Das unterscheidet meine Anthologien von den elitärer ausgerichteten "Jahrbüchern der Lyrik".<<

Axel Kutsch, im Gespräch mit Gerrit Wustmann


Du bist dort ja auch vertreten - und in zahlreichen anderen Zeitschriften, wie Deine täglichen Meldungen auf Facebook, Instagram und Twitter verraten, als würde Dein Preisträger-Hype gerade vom Publikationshype abgelöst. *I) Bist Du eine Vielschreiberin? Oder wirst Du nur zufällig topaktuell überdurchschnittlich häufig veröffentlicht? *J) Sind Deine Gedichte nun Feinkost oder "einfaches" Schwarzbrot? Oder ist je nach Zeitschrift dasselbe Gedicht mal elitär und mal trashig interpretierbar? *K) Wird es dann automatisch zu Fastfood? Oder liegt Qualität sowieso nur im Auge des Lesers? Als ich das Interview mit Kutsch las, frühstückte ich witzigerweise im selben Augenblick tatsächlich Schwarzbrot, aber hatte es mir zur Abwechslung mal wieder nach langer Zeit gekauft, weil ich es als nahrhafte Feinkost empfinde, mit vielen Ballaststoffen gut für die Verdauung (na, wenn das nicht metaphorisch ist!), im Gegensatz zu Gummitoastbrot. Langsam wird mir selber schon schwindelig von den tausend Fragen - vielleicht magst Du einfach drauf los antworten, worauf auch immer??? Ach, das noch zuletzt: *L) Warum verraten Autoren oft ihre Gedichte aus den Anthologien, indem sie ein stolzes Beweisfoto ihrer Seite in den social media posten? Du hast das ja jüngst auch getan und ich verstehe das nicht, halte es für eine Unsitte, weil man sich die Bücher dann gar nicht mehr kaufen braucht, wenn man die eigenen Lieblingsautoren überall screenshoten kann! *M) Wo bleibt da der Überraschungseffekt der Erstveröffentlichung, das Wecken der Neugier als Marketingkonzept, wo doch der Literaturbetrieb in homeoffice Coronazeiten ohnehin schon über angebliche Verkaufseinbußen jammert, abgesehen natürlich von ebooks, die man jetzt für zeitgemäßer halten könnte? *N) Planst Du auch einen Lyrikband als krisensicheres reines ebook?

 

4.NAHBELLANTWORT


Poesie hat für mich in erster Linie die Funktion, mehr zu verstehen oder zu empfinden – am Ende bilden Verstand und Gefühl ja ein komplexes Ganzes – und damit auch intensiver und näher an mir selbst zu leben. Hier eignen sich ungewöhnliche Metaphern besonders gut, da sie einen neuen Blickwinkel aufzeigen, der ansonsten durch Sprache kaum darstellbar ist. Das Schreiben ist ein permanenter Versuch, sich an eine Grenze heranzutasten in der Hoffnung, sie zu überschreiten – ein Unterfangen, das fast zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist, wie ich gelegentlich in meiner Lyrik andeute:


Ein Kind sitzt auf Pfählen

und flicht Schilf.

Gestern brachte es mir

einen Korb Unsagbares,

das zwischen meinen Lippen

zerfiel.


Da Sprache aus eingeschränkten Mitteln besteht, kann es nicht gelingen, das Gemisch aus Klang, Farbe, Gefühl und Ahnung gänzlich einzufangen. Sprache basiert auf Gemeinsamkeiten, weil sie konventionalisiert ist, und es bedarf großer Anstrengungen, Nuancen zum Ausdruck zu bringen, die ein Gegenüber nicht kennt und für die es noch keine festgelegten Ausdrücke, allenfalls Umschreibungsmöglichkeiten gibt. Worte sind bestenfalls Bauklötze in einer bestimmten Form. Manchmal wünsche ich mir, dass sie aus Ton wären, dass ich an ihren Ecken und Enden herumdrücken könnte, sie ein Stück zurechtbiegen – doch vergeblich, denn schließlich ist es nur möglich, sich auf das zu stützen, was bekannt und vordefiniert ist. Wäre unser Verständigungssystem komplexer, wüssten wir vielleicht auch mehr über die sogenannte Wirklichkeit. Aber Sprache ist nichts als ein Filter, genau wie unsere Sinne. Sie sind, um es einmal plakativ zu sagen, ein rot gefärbtes Stück Glas. Das Rot kann von Person zu Person unterschiedlich sein, doch immer bleibt ein Rotton, durch den wir schauen. Diese Farbe, die wir auf die Realität legen, halten wir für einen Teil von ihr, dabei haftet sie nur dem Medium an – unseren Sinnen. Hinzu kommt, dass wir nie wissen, in welcher Nuance der Leser sie wahrnimmt. Kommunikation mit Worten kann nur eine grobe Richtung darstellen. Dahinter befindet sich aber noch eine ganze Welt. An diese Welt würde ich gerne näher herankommen. Damit möchte ich der Lyrik allerdings keine weiteren Rollen absprechen. Ich empfände es als anmaßend, wenn ich – ein Mensch von vielen – mir das Recht nähme, festzulegen, was in einem Gedicht angemessen ist und was nicht. Lyrik darf alles, und verschiedene Stilrichtungen und Themenvorlieben gegeneinander auszuspielen, halte ich nicht für zielführend. Begrenzungen sind allenfalls subjektive Vorlieben, doch wenn ich etwas auf eine bestimmte Weise für mich erlebe, heißt das noch nicht, dass die Meinung des anderen falsch ist. Die Definition von Qualität und ihre Eingrenzung ist, abgesehen von einigen allgemein gültigen Kriterien wie Orthografie und Grammatik, immer auch zeit- und personengebunden. Timo Brandt bringt es in seinem Essay "Bei aller Poetik" auf den Punkt: "Lyrik ist keine Glaubensrichtung, die auf ihre Bibel wartet." Somit halte ich die Begriffe "Feinkost" oder "Schwarzbrot" ebenfalls für gewagt. Es mag sein, dass sie eher eine individuelle Kunst ist, sofern man das nicht von aller Kunst sagen muss, die über eine bloße naturalistische Abbildung hinausgeht. Das heißt aber keinesfalls, dass lyrisches und biografisches Ich deckungsgleich sind. Die Trennung ist ganz klar vorhanden und basiert nicht nur auf einer literaturtheoretischen Illusion. Allerdings darf man nicht vergessen, dass der Übergang fließend ist, dass sich beides überschneidet und dass wir ein anderes Leben, eine andere Wahrnehmung immer nur aus uns selbst heraus beschreiben können. Stellt man sich die zwei Begriffe als Kreise vor, ist die Schnittfläche bei manchen Gedichten groß, im Ausnahmefall sogar vollständig; bei anderen wiederum überlappt nur ein kleiner Teil. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, sich diese Trennlinie bewusst zu machen. Ich habe es oft erlebt, dass Leser an Grenzen kommen, weil sie diese Unterscheidung ignorieren. Ein Beispiel: Meine Mutter, die sich sonst nicht mit Lyrik befasst, liest meine Gedichte wie eine Autobiografie. Kann sie eins nicht in mein Leben einordnen, reagiert sie mit den Worten: "Das verstehe ich nicht." Ein anderer Lesertyp wiederum stülpt sein Schulwissen aus dem Deutschunterricht über das Gedicht, fühlt sich an lästige Klassenarbeiten erinnert und schaltet nach wenigen Zeilen ab. Auch das halte ich nicht für zielführend. Lyrik ist ein Erlebnis, kein trockenes Konstrukt. Natürlich lässt sich ein Gedicht auch rein mit dem Verstand erfassen; wer aber Begriffe wie "Polyptoton" oder "Pars pro toto" nicht mehr parat hat, kann für sich nicht weniger aus den Worten ziehen – vorausgesetzt, er lässt es zu, nimmt die Lehrerstimme in seinem Kopf nicht zu ernst und blockiert sich nicht selbst den Zugang. Der Begriff "Vielschreiberin" passt auf mich nur bedingt. Durch meinen Brotberuf komme ich einzig am Wochenende und im Urlaub dazu, mich mit Literatur zu befassen. Dennoch liegen zahlreiche Fragmente auf meinem Computer, Textstücke, die ich noch ausarbeiten will. Manchmal gefallen mir lediglich zwei Zeilen; manchmal fehlt nur der letzte Schliff. Die Facebook-"Beweisfotos" empfinde ich selbst nicht als Marketing-Problem. Bei Büchern wie den Versnetzen, in denen oft nur ein Gedicht pro Autor veröffentlicht wird, kann ich dich zu einem gewissen Grad verstehen. Dennoch bin ich der Meinung: Niemand kauft ein Buch wegen einer einzigen Seite. So ein Werk bietet zahlreiche andere Entdeckungen. Wenn dafür das Interesse gänzlich fehlt, reicht auch mein Gedicht nicht als Anreiz. Ich sehe es eher als Appetithappen, weniger als Abschreckung. Gerade bei Zeitschriften, in denen vielleicht drei oder vier Gedichte von mir enthalten sind, kann ich mit dem einen, das ich vorab zeige, möglicherweise Interesse wecken. Ich jedenfalls entscheide bei Lyrik ausschließlich anhand von Leseproben, ob ich etwas kaufe oder nicht. Enthält eine Rezension keine Textbeispiele, kann sie noch so lobend sein, ich werde mir das Buch nicht anschaffen, bestenfalls weiter im Internet recherchieren, ob ich einen Auszug finde. An einem E-Book arbeite ich derzeit nicht. Der Geest-Verlag, in dem meine beiden Bände erschienen sind, hat jedoch aufgrund der Corona-Einschränkungen tatsächlich erstmals auch E-Books im Angebot, bisher allerdings nur Romane.

 

5.NAHBELLFRAGE


Da Du nun zum zweiten Mal Deinen Broterwerb erwähnst, traue ich mich doch mal, nachzuhaken: womit verdienst Du denn Deine Brötchen? Gehörst Du nicht zu den "prekären" Soloselbständigen der Lyrikszene, die Corona-Soforthilfe fordern? Apropos Virenpanik (ich wollte es eigentlich vermeiden, weil mich die ganze Pandemiepolitik inzwischen total nervt): hast Du Coronalyrik verfasst? Gedichte, die Dein Lebensgefühl im Lockdown beschreiben? Das wäre dann wohl die (vom Leser?) erwartete Pflichtkür in einem Interview in diesen Zeiten (sage ich etwas sarkastisch!), aber ich verrate Dir: die anderen beiden Preisträger haben auch bereits eins geliefert! Haha, das erhöht jetzt den Druck ungemein, nein, es besteht kein Zwang, nur eine Option...


5.NAHBELLANTWORT

 

Ich habe in Düsseldorf Literaturübersetzen studiert und arbeite heute in der Lokalisierungsbranche. Der Grund, warum ich den Bereich gewechselt habe, liegt in der prekären Situation der Künstler, die vor literarischen Übersetzern nicht Halt macht. Meine Praktikumsleiterin im Hauptstudium sagte einst, ihr umgerechneter Stundenlohn bewege sich in einer Spanne von vier bis zwölf Euro. Letztes Jahr sollte ich im Rahmen von Umstrukturierungsmaßnahmen entlassen werden. Um ein Haar hätte ich mich im Herbst selbständig gemacht. Meine Urlaubslektüre war "Überleben als Übersetzer" von Miriam Neidhardt, meinen Business Plan begann ich keine zweihundert Meter vom Meer – zum Schluss gab es aber noch einmal eine Wendung. Das ein oder andere Corona-Gedicht habe ich, was vielleicht nicht allzu überraschend ist, in der virtuellen Schublade. Bereits zu Anfang der Maßnahmen durfte ich bei der Lockdown-Lyrik-Reihe von "Das Gedicht" mitmachen. Auch später hat mich die politische und persönliche Situation zum Schreiben inspiriert. Es entstand, was viel seltener bei mir vorkommt, sogar Kurzprosa, häufig aus der Perspektive von Kindern. Unfähige Erwachsene, Überforderung, Ekel, Schmerz – aber auch ein Schutzraum aus Fantasie waren meine Schwerpunkte. Neben dystopischen Themen beschäftigten mich die Fragen: Wird in den nächsten Monaten oder Jahren die Anzahl der Kinderpsychologen zunehmen, die möglicherweise antrainierte Gefühle und Verhaltensweisen wieder "wegmachen"? Oder sollen Angst und Abscheu als Schutzmechanismen in den neuen Normalzustand übertreten? Um es einmal karikaturistisch zu überspitzen: Werden Kinder, die von klein an so aufwachsen, in Zukunft auf andere mit dem Finger deuten und sagen: "Iiih, ein Mensch"? "Normal" ist ein sehr schwieriges Wort. In unserer Gesellschaft fällt nicht das unter diesen Ausdruck, was dem Einzelnen in seiner Besonderheit guttut, sondern der Durchschnitt, die vorhandene Mitte. "Normal" wird oft als eine Mischung aus "gesund" und "üblich" gesehen. Das allerdings ist eine gefährliche Verknüpfung. Die beiden Begriffe sind alles andere als gleichbedeutend. Wird der Randbereich pathologisiert, kommt es nicht selten zu innerem Leiden. In den nächsten Jahren könnte das Verständnis von "normal" eine Verschiebung durchmachen; ob zu unserem Vorteil, sei dahingestellt. Das obligatorische Corona-Gedicht will ich nun nicht vorenthalten:


Tatbestand


Am Eingang machen Blicke Abstriche

von der Schleimhaut,

hantieren mit Handschuhen

an meinem Aussehen.


Dort hinten brechen Wolken

das neue Gesetz,

gleiten straflos über die Grenze hinweg.

Ich warne den Vogel

in meinem Kopf.

Auch er fliegt unbefugt

in fremdes Land,

sodass die Menschen verrückt werden.

Polizisten patrouillieren

zwischen Herbstblättern.

Heute weht der Wind verkehrt,

stiftet zur Straftat an,

das Laub und den Staub der Straßen.

Zwischen den Häusern ist die Stille

über alle Maßen verstört.

 

6.NAHBELLFRAGE

 

Ich muss gestehen, daß ich den Begriff "Lokalisierungsbranche" noch nie zuvor gehört hatte und darum googlen musste, um Deinen Job zu erahnen. Die Definition, die ich fand, lautet:

 

"Die Lokalisierungsbranche besteht aus Unternehmen, die Übersetzungs- und Kommunikationsdienste für Unternehmen anbieten, die ihre Produkt- und Marketingkommunikation für lokale Märkte auf der ganzen Welt anpassen möchten. Die Branche erfüllt die Anforderungen von Unternehmen, die ihre Produkte und Dienstleistungen weltweit vermarkten, möchte jedoch sicherstellen, dass ihre Kommunikation den lokalen kulturellen, sprachlichen, politischen, rechtlichen und geschäftlichen Anforderungen entspricht."

 

Krasse Sache! Ich stelle mir grad vor, das würdest Du mit Deinen Gedichten machen! Aldous Huxley hat es für seinen berühmten Roman "Brave New World" getan: die deutsche Übersetzung als alternative "Original"-Version spielt nicht in London sondern Berlin! Das war schon ziemlich genial gedacht; denn beim Lesen waren mir die Gefühle des deutschen "Wilden" (der letzte echtgeborene Reservatsmensch) tatsächlich näher als die des Engländers (ich musste die englische Ausgabe ein Jahr später zwangsweise für den Leistungskurs Englisch lesen). Aber was müsste man alles in einem Coronagedicht ändern, um es der jeweiligen Ländersprache anzupassen? Die Frage scheint geradezu absurd, da ja behauptet wird, wir befänden uns erstmals in einer global homogenen Situation, was natürlich keineswegs pauschal stimmt, abgesehen von denselben Schlagwörtern, die jeder beim Verrecken benutzt, egal ob in einem Flüchtlingscamp oder auf der Luxusyacht eines Multimillionärs. Im Sterben sind wir ja sowieso alle gleich. Aber trotzdem: nicht alle sehen einen Tunnel ins Licht und fühlen sich eher dorthin gezogen als ins Leben zurückkehren zu wollen. Apropos Lebensende: was hast Du Dir literarisch noch alles vorgenommen? Wenn Du jetzt coronabedingt Prosa schreibst, könnte vielleicht irgendwann ein Roman folgen? Dann hättest Du Dein erstes eBook in Deinem bisherigen Verlag vielleicht sicher! Wirst Du die Live-Musik konzeptuell weiter ausbauen? In den letzten Jahren traten ja immer häufiger Lyriker sogar mit Bigband auf, nicht unbedingt zum Vorteil ihrer Texte, vor allem, wenn sie stimmlich keine begabten Performer sind. Sogar einen Slamer mit Jazzpiano im Livestream hörte ich vor einigen Tagen (der war allerdings rundum ziemlich genial). Deine Harfe hat aber auf jeden Fall ein Alleinstellungsmerkmal, oder? Diese Kombination habe ich vorher noch nicht gehört... Also, wo geht es künstlerisch hin? Ich möchte das vielleicht als das Ende des Interviews belassen und Dir selbstverständlich das Schlusswort überlassen. Es sei denn, Du triggerst bei mir mit Deiner Antwort irgendwas an, was dann doch noch unbedingt gefragt werden muss. Vielleicht möchtest Du auch einfach die Gelegenheit nutzen, etwas zu erzählen, wo mir die dazugehörige Frage gar nicht in den Sinn kam. Bitte, erzähl! Es ist wunderbar, Deinen Gedanken zu folgen und ich möchte mich an dieser Stelle dafür bedanken, daß Du einen derart vertraulichen Einblick ins Leben einer Lyrikerin gewährst und wünsche Dir für alles Kommende ganz viel Erfolg und viele Leser Deiner "synästhetischen Lyrik", wie ich sie für mich getauft habe...

 

6.NAHBELLANTWORT


Gerade bei Lyrik geht durch eine bloße Übersetzung, die sich allein auf den Inhalt konzentriert, viel verloren. In letzter Zeit schreibe ich oft Gedichte, die nicht im eigentlichen Sinn übersetzbar sind, weil ich zum einen mit dem Klang als wichtiges Element arbeite, zum anderen die deutsche Sprache auseinandernehme, mit Bedeutungsebenen und festen Wortfügungen spiele und dadurch Brüche erzeuge. Hier ist das Übersetzen stets eine Gratwanderung: Wie nah kann ich am Inhalt bleiben, ohne die Ebenen der Phonetik oder der Wortspiele gänzlich zu verlassen? In anderen Sprachen auf ähnliche Effekte zu setzen und mit dem Ziel der Wirkungsäquivalenz an die Gedichte heranzugehen, halte ich für einen angemessenen, wenn auch schwierigen Weg, an dem ich mich selbst auch schon im Rahmen von Sonett-Nachdichtungen versucht habe. Bisher wurden Gedichte von mir ins Englische, Griechische, Rumänische, Ukrainische, Russische und Tschechische übersetzt. Leider kann ich bei den meisten Sprachen nicht beurteilen, welchen Weg der Übersetzer für sich gewählt hat, wie er Stellen gelöst hat, bei denen keine Deckungsgleichheit möglich ist. Was in der deutschen Fassung von Brave New World 1932 gemacht wurde, darf sich wohl nur ein Selbstübersetzer erlauben oder, wie in Huxleys Fall, ein Fremdübersetzer in Rücksprache und Zusammenarbeit mit dem Autor. In meiner Diplomarbeit habe ich mich mit dem Thema "Selbstübersetzung bei deutschen Exilschriftstellern des Dritten Reiches" befasst. In der Tat nehmen sich Autoren, die ihre eigenen Werke übertragen, häufig mehr Freiheiten heraus, da sie keinem anderen Schriftsteller zu Respekt und Treue verpflichtet sind. Für meine Texte wäre mir so ein Unterfangen jedoch zu gewagt. Literatur kann in der Regel nur in der eigenen Muttersprache mit dem nötigen Feingefühl wiedergegeben werden, somit verlasse ich mich auf andere. Bei einem Corona-Gedicht wären die nötigen Anpassungen in einen anderen Kulturbereich sicher geringer. Dennoch gibt es gewisse Nuancen im Sprachgebrauch, um nicht zu sagen Unworte, hinter denen ganze Denkweisen und gesellschaftliche Entwicklungen stehen. So wirkt auf mich der englische Begriff "essential worker", den ich in den letzten Wochen häufig las und hörte, bei weitem nicht so hart wie der Begriff "systemrelevant", der im Deutschen vorherrscht. Zahlreichen Bevölkerungsgruppen wird damit gesagt: "Wir brauchen euch nicht. Unser System funktioniert auch ohne euch." "System" allein ist ja bereits so ein aufgeladenes Unwort, in dem ganze Ideologien mitschwingen. "Synästhetische Lyrik" trifft als Bezeichnung auf viele meiner Gedichte sicher zu. Letztlich ist das Schreiben – jedenfalls bei mir – auch ein Anknüpfen an die Kreativität des Kindes. Mit den Jahren wird das Empfinden schwächer, stumpft immer mehr ab – vielleicht ein Schutzmechanismus. Früher hatte jedes Gutenachtlied, das meine Mutter für mich sang, eine ganz bestimmte Farbe, einen Zwischenton, für den mein Wortschatz zu dem Zeitpunkt noch nicht ausreichte. Natürlich wusste ich damals nicht, dass andere diese Verknüpfung nicht kannten, ähnlich wie ich auch glaubte, es sei normal, mit dem rechten Auge besser zu sehen als mit dem linken – analog zur stärkeren Hand. Im kindlichen Wahrnehmen steckt ein großer Fundus für schöpferisches Arbeiten. Was die Musik betrifft, denke ich, dass sie immer nur im Hintergrund meiner Tätigkeit bleiben wird. Was mich fasziniert, sind Menschen, die ohne Noten und spontan wirkungsvolle Begleitungen oder Improvisationen hervorbringen, sich an ihr Instrument setzen und mit Freude und Gefühl aus dem Moment heraus spielen. Ich komme aus einer ganz anderen Richtung, hatte als Kind acht Jahre klassischen Spinett-Unterricht und bin es gewohnt, vorgegebene Stücke nach Noten einzustudieren. Aber wer weiß, vielleicht wird sich in dieser Hinsicht noch etwas verändern. Harfen habe ich bei Lesungen bisher selten gesehen; ein Alleinstellungsmerkmal ist das Instrument allerdings nicht. Auf dem Brüggener Literaturherbst 2015 spielte eine Harfenistin zwischen den Lesungsblöcken einige Stücke. Ich war begeistert, zumal ich die meisten davon kannte und ebenfalls gern als Zwischenspiel nutze. Ob in Zukunft auch Romane entstehen werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Ich kann es jedenfalls nicht ausschließen. Ein angefangenes Prosamanuskript liegt bereits in meiner Schublade. Pläne im Sinne von "Wo siehst du dich in fünf Jahren?" habe ich nicht. Ich folge meiner Intuition, konzentriere mich auf das, was ich im jeweiligen Augenblick für richtig halte – und bin selber gespannt, wo mich das Leben hinträgt. Nur eins ist gewiss: Ich werde weitermachen, und ich hoffe, dass auch in den kommenden Jahren eins aufs andere folgt, sich Türen öffnen werden und Möglichkeiten auf mich warten. Auch ich möchte mich für dieses Gespräch bedanken.