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DAS GROßE NAHBELL-INTERVIEW

22. Nahbellpreis 2021 an: HARALD KAPPEL

"WAS NÜTZT SCHON DER TIEFGANG, WENN ER KEINEN BERÜHRT?"

Zitat aus dem Interview mit dem 22.NAHBELL-HAUPTPREISTRÄGER 2021 HARALD KAPPEL:

Über den "Wert" von Gedichten zu entscheiden, halte ich für eine schwierige Aufgabe. Dies zieht sich allerdings durch die gesamte Kunst/Musikszene. Ich glaube, man muss das richtige Maß zwischen Anspruch und Lesbarkeit finden. Kultur ist nicht nur Verstand und Überlieferung, sondern auch Geschmack, Spass und Relevanz. Was nützt schon der Tiefgang, wenn er keinen berührt?


Harald Kappel (*7.6.1960) aus Aachen. Arzt, Studium Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt "Kreatives Schreiben". Postpoetry-Lyrikpreisträger des Landes NRW (2019). Gern kombiniert Kappel auf Lesungen seine Gedichte mit (Live-)Sound zu lyrischen Klangbildern (z.B. auf zwei Produktionen der Züricher Literaturzeitschrift "Stereofeder"). PUBLIKATIONEN: Roman "Gegenströmung" (2005), Gedichtbände: "Mondvoll" (2013), "aus den Geistesanstalten" (Privatdruck, Künstleredition 2020), "Kaminfegerschnee" (10 Gedichte, Literaturautomat.eu, Deutschland 2019), "Mandeln und Fjorde" (Gedichtbox, Literaturautomat.ch, Schweiz 2019). Lyrik in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a.: "Der Dreischneuß" (Lübeck), "WORTSCHAU" (Düsseldorf), "Am Erker" (Münster), "klischée" (Heidelberg), "MAULhURE" (Essen), "Ratriot" (Essen),  "Stereofeder" (Zürich), "Seitenstechen" (Erlangen), "silbende_kunst" (Köln), "Honich" (Leipzig), "KLiteratur" (Köln), "Prolog" (Berlin), "Die Leere Mitte" (Berlin), "DreckSack" (Berlin), "ausreißer" (Graz), "erostepost" (Salzburg), "neolith" (Wuppertal), "delirium" (Zürich), "mosaik" (Salzburg).

(Biografische Daten aus dem POESIESALON.de)

 

 

01.nahbell-frage


lieber harald, ich weiss gar nicht, wo ich beginnen soll, so viele fragen schießen durch meinen kopf, wenn ich deine kunterbunte biografie lese. aber zunächst einmal herzlichen glückwunsch! du wirst am 21.6. zum einzigen 22.nahbellhauptpreisträger ernannt (es wird aber wieder einen förderpreisträger geben) und wir haben nun noch genug zeit, um der lyrikszene einiges über dich zu erzählen, was man bislang vielleicht noch nicht so ausführlich wusste... mal sehen, wo es uns im gespräch so überall hintreibt! also das erste, wonach ich total aufgeregt auf youtube gesucht habe, ist deine NDW band "rotlicht" von 1982, aber ich fand keinen einzigen song online. auch google ergab keinen treffer. du hast da gesungen und keyboard gespielt - aber hast du auch die texte für eure songs geschrieben? war das im grunde eine literaturperformance-band? und was ist aus den anderen bandmitgliedern geworden?


01.nahbell-antwort


Lieber Tom! ... und ich weiss gar nicht, wie ich meine Antworten beginnen soll... zunächst einmal allerherzlichsten Dank! Es ist mir eine grosse Ehre, dass mir in einer seltsamen, und für Viele von uns natürlich schwierigen Zeit, dieses Glück zuteil wird. Ja, es ist einfach wunderbar, dass ich mich in eine so schöne Reihe von tollen VorgängerInnen und AutorInnen stellen darf. Ich weiss das sehr zu schätzen und freue mich noch sehr viel mehr als Du glaubst. Literatur und insbesondere Lyrik erscheinen mir in diesen Monaten einen immer wichtigeren Stellenwert in unseren Köpfen einnehmen zu können (..was bleibt uns auch Anderes übrig...). Wenn man nicht vor die Tür kommt, kommt man so wenigstens in seinen Kopf... und vielleicht in die Köpfe der Lesenden. Das ist ein Privileg der Worte und Texte und gerade nicht zu unterschätzen. Nun, in "YouTube" sind die Songs unserer Band "Rotlicht" (zurecht!...) nicht zu finden... ich glaube, da mangelte es uns zwar nicht an Enthusiasmus, Probezeit und Bier... aber sicherlich an Qualität! (...na, wenn ich schon singen durfte...) Die "Neue Deutsche Welle" war damals allerdings, so ähnlich wie der Punk Mitte der 70er Jahre, ein Aufbruch im deutschsprachigen Raum in alternative Texte und merkwürdige Musik. Wir waren auf keinen Fall eine Band mit literarischem Anspruch, dazu waren wir gar nicht in der Lage, weil wir genug mit der Performance der Musik beschäftigt waren. Einige Songtitel aus dem Jahr 1982 zeugen davon: ("Fisch aufm Tisch", "der Teufel ruft", "schwarzfahren", "Bosnala", "Huhn", "hey, wo willst du hin", "wenn du alleine bist"...) haha...das sagt alles, oder? Songtexte hab ich keine mehr gefunden und glaub mir, das ist in diesem Rahmen auch besser so... Also, "Fisch aufm Tisch" war schon ziemlich dadaistisch und könnte man heute als gesungene Slampoetry bezeichnen. (...der Text wurde spontan immer anders variiert). Aber egal, uns hat`s Spass gemacht! Die anderen Bandmitglieder habe ich seither aus den Augen verloren. Unser Guitarrero und Bandgründer Helmut wurde damals schon Vater, hat Musik studiert und noch was Pädagogisches... und er war Pflanzenzüchter (von tabakartigen Sorten...). Ich besitze noch immer seine alte wunderbare AriaPro E-Gitarre (ein Gibson-Nachbau aus den 70ern), die ich mit ihm gegen ein kleines Casio-Keyboard getauscht hatte. Sie klingt immer noch fantastisch. Von unserem Bassisten Thomas hatte ich noch ein altes Klavier gekauft, dass ich noch ein paar Jahre später gerne gespielt habe. Schlagzeuger Volker hat damals schon sein Geld als Roadie der "Rodgau Monotones" aufgebessert. Sie waren damals der grösste hessische "Act" und wir Giessener "Rotlichter" haben lange zu ihnen aufgeschaut. (die! findet man leicht auf "YouTube"...) Ich habe gehört, er durfte bei den "Monotones" auch später ersatzweise ab und zu an die Drums. Er war mit Sicherheit unser bester Musiker und ein Kreativer Kopf! (...er musste sich allerdings ständig gegen unseren modischen Roland TR606-Drumcomputer durchsetzen...künstliche Schlagzeugklänge waren damals das "Nonplusultra"!) Ja, wenn ich mich nun so erinnere, war es eine tolle Zeit und irgendwie lässt es mich gerade auch sentimental zurück…

 

02.nahbell-frage


in welchen bands spielst du denn heutzutage? ist dort der literarische anspruch höher? woher nimmst du die selbstbewertungskriterien für "gute" gedichte: reine intuition oder hast du literatur studiert? und apropos slampoetry: trittst du eigentlich auf poetry-slams auf? wann hast du erstmals dein selbstbewusstsein für die bühne und zum dichten bemerkt? heute muss ich dich einfach mal mit "zu vielen" fragen auf einmal bombadieren, meine neugier ist grenzenlos!!!


02.nahbell-antwort


Ich mache leider heutzutage viel zu selten mit Anderen zusammen Musik (und auch für mich allein…)! Viel! zu selten!! Das empfinde ich als sehr schade. Warum das so ist, weiss ich nicht. Aber ich möchte und könnte es ja täglich ändern. Wer weiss... Meine letzte Band waren (und sind es hoffentlich immer noch!) "The DoXXs". Literarisch habe ich nur wenig zu den Texten beigetragen, weil unsere Sängerin "Nico" ein grosses musikalisches und! sprachliches Talent besitzt und die Songs hauptsächlich selbst getextet hat. Insofern war der "literarische Anspruch" dort tatsächlich höher. (..und weil ich..haha...daran nicht vorrangig beteiligt, sondern eher für die Kompositionen zuständig war...)


Textbeispiel aus "der kleine Tod" (the DoXXs):


der kleine Tod
wie kann ich sterben
ohne ihn
niemals niemals niemals


stieg runter vom Keller
bis ganz unters Dach
es wird immer heller
das dunkle Gemach


die Jahre die fliessen
wie Flüsse ins Meer
böse Gedanken riefen
mein Herz tonnenschwer


Käfer
Fische
es kommt doch zurück zurück zurück...

 

Auch hier ist im Internet nicht viel über uns zu finden, obwohl Dr. Claus, unser grossartiger Gitarrist, einige Lieder auf Soundcloud gestellt hatte.(...Suchen ist somit fast zwecklos...) Warum ein Gedicht mehr oder weniger gut ist oder empfunden wird, ist für mich eine Frage der Relevanz, des Rhythmus und des Gefühls. Mir gefällt ein Text, wenn er außergewöhnlich ist und nicht der Gerade bis zum Horizont folgt. Interessant sind die Abzweigungen, die Überraschungen, die Novität, der sprachliche Geschmack, auch die Eleganz. Mein (spätes) Studium am Germanistischen Institut in Aachen war gut für das "Handwerkszeug" und vielleicht auch fürs literarische Selbstbewusstsein, erscheint mir aber nicht zwingend notwendig, um gute Texte beurteilen und schreiben zu können. Ich bin nie als Slam-Poet aufgetreten, aber stand schon gemeinsam mit ihnen auf der Bühne. Es hat mir sehr gefallen, und obwohl ich ja kein Slammer im eigentlichen Sinn bin, kombiniere ich bei Lesungen meine Gedichte gerne mit Sound und Musik. Die Musiker der Zeitschrift "Stereofeder" aus Zürich haben 2018/2019 in zwei Produktionen einige meiner Texte mit Sounds kombiniert und ich mag es immer sehr, diese zum Teil ungewöhnlichen Klänge einzusetzen. Mit meiner Hammond-Orgel spielte ich schon als kleiner Junge in Supermärkten auf Euro-Paletten (ohne jegliches Selbstbewusstsein...), und deshalb haben sich Bühnenauftritte durch mein Leben gezogen (wie ein Elixier und Kaugummi...) Insbesondere bin ich mit einem Freund in den 90ern zehn Jahre lang als Magierduo "Harry und Herby" in Sälen, Zelten, Kneipen, Wiesen und Wäldern und auf Feiern jeglicher provinzieller Couleur aufgetreten, so dass ich immer irgendwie  auf Brettern stand, die die Welt nicht bedeutet haben. Das prägt... und das (Selbst)-Bewusstsein natürlich auch. Gedichtet habe ich schon immer... (was auch immer "immer" bedeutet...)

 

03.nahbell-frage


ja, was heisst denn "immer" tatsächlich konkret: schon als kind? von wann stammt dein erstes gedicht? wurde es veröffentlicht? seit wann publizierst du deine gedichte und wo wurdest du zum ersten mal veröffentlicht? hatte das auswirkungen auf darauf folgende bewerbungen? hast du schon irgendwelche preise vor dem nahbell zugesprochen bekommen und falls ja: wofür genau? hat dir das daraus resultierende prestige in der lyrikszene eine höhere aufmerksamkeit verschafft? glaubst du, literaturpreise an sich führen dazu, als lyriker ernster genommen zu werden und eher von weiteren herausgebern von magazinen und buchverlagen berücksichtigt zu werden? sind kommerzielle gründe dafür auch von bedeutung?


03.nahbell-antwort


Das Wort "immer" war natürlich eine pauschalisierte Verkürzung der Antwortmöglichkeiten... Mein "erstes" Gedicht, glaube ich, war eine dadaistisch expressionistische Adaption von Worten, nachdem wir in der Schule die "Menschheitsdämmerung", herausgegeben 1919 von Kurt Pinthus, gelesen haben. Diese Zusammenstellung seltsamer neuartiger expressionistischer Gedichte von Anfang des 20.Jahrhunderts hat mich sehr begeistert und begeistert mich immer noch. Sie war und ist ein Quell von Inspirationen und hat bis heute meinen "Schreibstil" geprägt. Dieses "erste" kurze Gedicht habe ich mit vierzehn Jahren geschrieben und es lag dann lange in meiner Nachttischschublade. Leider ist es verschollen und ich kann es leider nicht mehr memorieren, aber es war ziemlich jeck... (...so sagt man im Rheinland...) Mein ersten zwei Gedichte, die veröffentlicht wurden, sind 1995 in einer Anthologie für "schreibende Ärzte" mit dem Titel "Schicksale ziehen vorüber" erschienen. Das war nichts Besonderes und es erschienen Texte noch in zwei weiteren Publikationen. Es hatte null Auswirkungen auf mich, auf die Leser und die Literatur und diente wohl nur meiner Frustbewältigung im Anästhesistenalltag... Aber hier beispielhaft die "erste Veröffentlichung":

 

Sprechstunde

Gotterhaben
sitzen Herren in weißen Kitteln
zu Gericht
über Schicksale der Bittsteller
die wurmhaft ergeben zur Verhandlung kriechend
zitternd ihr Urteil erwarten
von Schweigen eingehüllt
Milde erflehend
den erlauchten Gesichtern zugewandt
wird ihnen Leben und Sterben verschrieben
angekettet an buntes Gift in Pillenform
das ihnen über den Richtertisch gerollt wird
Seelenlos
Hoffnungslos
Alleingelassen…

 

Ja, Literaturpreise... im Jahr 2019 habe ich den postpoetry-Lyrikpreis des Landes NRW erhalten für das Gedicht "Dolce Vita":

 

Dolce Vita


im Pizzaofen
brüten unsere Kinder
zwischen Artischocken und Sehnsucht
Lichtjahre entfernt
reiben wir den Stiefel
unser Mussolini klatscht den Rhythmus
im Pizzaofen
entscheidet das Feuer
im Fötus
die Schlagzahl des Herzens
Lichtjahre entfernt
machen wir Kreuze
an den falschen Stellen
lecken am Spaghettieis
wundern uns
über braune Krusten
und glauben an
la dolce vita
immer
noch

 

Im letzten Jahr gab es den ANARKOS-Award 2020 mit der Literaturzeitschrift "MAULhURE #8". Sie enthält vier Gedichte von mir und ist ein wunderbar provokantes "Blatt" mit grossartigen Kollegen und Texten. Ich denke schon, dass man durch Literaturpreise in der Lyrikszene eine erhöhte Aufmerksamkeit, auch bei den Lesern, erhält. Allerdings sagen Literaturpreise nun sicher nicht viel über die "Qualität" des Autors und der Texte. Hier gibt es nicht unbedingt eine sichere Korrelation. ...aber ich nehme mich tatsächlich ein wenig mehr "angenommen", was mir dabei hilft, bei meinem eigenen Stil zu bleiben und nicht in die Versuchung  zu kommen, kommerzieller zu schreiben. Das sehe ich als Geschenk und grossen Vorteil.

 

04.nahbell-frage


vonwegen "kommerziell" möchte ich nochmal nachhaken: du bist ja von beruf arzt, seit letztem jahr pensioniert, aber als arzt verdient man ja genug, um sowieso völlig unabhängig vom ökonomischen erfolg den verrücktesten hobbys nachzugehen, oder nicht? fühlt sich die dichterei also wie eine "berufung" neben dem brotberuf an? verdienst du "trotzdem" als lyriker auch geld, vorallem jetzt, um die pension aufzuhübschen? gibt es möglichkeiten, als lyriker irgendwie geld zu verdienen, ohne sich kommerzialisieren zu müssen? ich denke da an die selbsternannten sogenannten "berufslyriker", die in wahrheit zum beispiel als buchhändler ihre unabhängigkeit selbst finanzieren, aber sich in der öffentlichkeit gerne so darstellen, als wären sie die unberührbaren könige der lyrikszene, die von einem preis oder stipendium zum nächsten schlafwandeln... deren stile sind aber meiner meinung nach seltsamerweise oft wesentlich fader, langweiliger und weit weniger "jeck" als das, was dann in einigen jahrzehnten rückblickend als wirklich "wichtig" gilt, auch wenn die "posthum" bedeutsamen zu lebzeiten vielleicht unbekannter waren oder sogar vom literaturtrendbetrieb und den dazugehörigen journalistischen trittbrettfahrern boykottiert wurden. hat jemand über deine poesie schonmal was gutes geschrieben, bevor du einen namen in der szene hattest? woher nimmt ein zeitschriftenherausgeber den mut, dich zu drucken, wenn es noch kein anderer tat und man sich daher nicht sicher sein kann, ob die entscheidung in der szene peinlich ankommt? wer entscheidet über den wert oder die heute so gern beschworene "kulturrelevanz" von gedichten?


04.nahbell-antwort


Mein ärztlicher Beruf hat mich glücklicherweise in die Lage versetzt, nicht "kommerziell" schreiben zu müssen. Das ist natürlich ein grosser Vorteil und ich kann deshalb so schreiben, wie es mir gefällt. Als hauptberuflicher Künstler ist der kommerzielle Aspekt sehr wesentlich. Wichtig ist es aber in der gesamten Szene, sich möglichst "treu" zu bleiben. Die "Dichterei" habe ich nie als Hobby betrachtet, vielleicht ist sie schon immer meine "Berufung" gewesen. In der Schule war "Deutsch" mein erstes Hauptfach und später habe ich es ja auch noch studiert. Meinen Brotberuf (über den ich auch nicht mehr gerne viele Worte verlieren möchte…) konnte ich deshalb schnell und vollständig hinter mir lassen. Das ist mir sehr leicht gefallen. Als Lyriker Geld zu verdienen ist sehr schwierig, ich beneide niemanden meiner grossartigen und mutigen Kollegen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es Einige hinkriegen müssen, davon zu leben. Respekt! Während des germanistischen Studiums haben mir meine DozentInnen viel Zuspruch gegeben, das war sehr wichtig und motivierend für mich. Und in kleinen Gedichtblogs hab ich dann auch schon mal positive Rückmeldungen erhalten, bevor ich ein Teil der "Szene" sein durfte. Den "Zeitschriftenherausgebern" bin ich sehr dankbar (hier insbesondere den Redakteuren der Zeitschrift "Seitenstechen" aus dem "Homunculus"-Verlag in Erlangen) Hier durfte ich im Band "Dunkle Energie" (2016) neben vielen "bekannten" Schriftstellern und Ikonen einige Gedichte veröffentlichen... (es war allerdings zugegebenermassen genau mein Thema!) und danach ging es mit den Zeitschriften sehr schnell. Bis jetzt sind es über 200 Veröffentlichungen in wenigen Jahren. Klar, das ist ein unwahrscheinlich grosses Glück. Woher der Mut genommen wird, meine Gedichte zu drucken kann ich selbst nicht beantworten. Vielleicht passt es einfach manches Mal... Über den "Wert" von Gedichten zu entscheiden, halte ich für eine schwierige Aufgabe. Dies zieht sich allerdings durch die gesamte Kunst/Musikszene. Ich glaube, man muss das richtige Maß zwischen Anspruch und Lesbarkeit finden. Kultur ist nicht nur Verstand und Überlieferung, sondern auch Geschmack, Spass und Relevanz. Was nützt schon der Tiefgang, wenn er keinen berührt? Wer möchte urteilen? Ich nicht...

 

05.nahbell-frage


eine sache muss ich bzgl deines berufs einfach noch fragen, danach verschone ich dich davon. ein freund von RoN Schmidt war auch arzt, ich glaube chirurg, jedenfalls gab es blut und messer in seinen gedichten (die beiden veröffentlichten in den 90ern den doppelband "die kernlosen"), weshalb ich mich frage: hat oder hatte die anästhesie einfluss auf dein schreiben, auf themen oder die wortwahl - und falls nicht: warum nicht? das andere, was mir grad bzgl der chronologie deiner veröffentlichungen durch den kopf geht, ist einerseits, welche anthologien das denn namentlich in den 90ern waren, die deine gedichte erstmals brachten: kleine subkulturzines oder bereits etablierte große? hattest du berührungspunkte zu der sogenannten "socialbeat"-bewegung? mit der veröffentlichung in "gedichtblogs", also im internet, begann aber dein eigentlicher einstieg in die heutige lyrikszene im grunde nicht analog, sondern bereits mitten im aufblühenden digitalen zeitalter, ja? ab wann war das konkret? gibt es die blogs noch? war die "lyrikmail" (mit damals immerhin über 12tausend abonnenten, ein wahrer boom, leider schon wieder in alle pixel verstreut) auch darunter? wie schätzt du die bedeutung der digitalen medien ein: führen die seiten im internet (wie zb "fixpoetry") und das posten in den "social media" zu mehr erfolg, also höherem bekanntheitsgrad und verkauften büchern? auf instagram hast du ja mittlerweile auch einen account, aber keinen content außer dein autorenportrait, als wäre insta für dich bloß eine digitale visitenkarte, um andere accounts mitzuverfolgen - während die meisten lyrikinstitutionen dort tagtäglich werbung für ihre events, produkte und vertretenen autoren hochladen... wenn ich mich nicht ganz irre, haben wir beide uns auch erst dank "facebook" kennengelernt, oder nicht? wie siehst du den hype um ebooks und die angebliche (mediengemachte?) angst der traditionellen verlage um den hoheitsverlust des echten buchobjektes? hast du vor, deine lyrik in ebooks anzubieten? was steht bei dir dieses jahr noch an publikationen in den startlöchern? und wie werden die beworben?

05.nahbell-antwort

"Blut, Messer" und Narkosegas kommen tatsächlich in meinen Gedichten ab und an vor. Ich benutze die, zugegeben im poetischen Zusammenhang interessante..., medizinische Terminologie gern, um den Worten eine zusätzliche kontextuelle Bedeutung zu verleihen. ...und die Medizin war ja ein Teil meines Lebens…von dem wohl irgendwo ein Jeder berichtet, der sich mit Schreiben beschäftigt, egal in welchem Genre. Meine ersten Veröffentlichungen in den 90ern waren kleine unbedeutende Anthologien, die sich auch noch an "schreibende Ärzte" gerichtet haben... das hatte keinen "socialbeat"-Hintergrund, eher im Gegenteil… es hatte etwas mit der Frustration und Erschöpfung im Beruf zu tun. Da fehlte mir die Vision und die Kraft für intellektuelle Revolutionen... Mein Einstieg in digitale Formate begann etwa 2013/2014 in "Die Deutsche Gedichtebibliothek", wo einige meiner Gedichte veröffentlicht wurden (gibts noch…!). Ein paar positive Rückmeldungen haben mir damals Mut gemacht… in einem anderen Gedichtblog wurden aber meine Texte ohne Rücksprache umgeschrieben. Das gab dann gleich ein bisschen Ärger und hat mir gezeigt, dass die virtuelle Welt nicht nur ein grosser Spass ist... Die "Lyrikmail" war mir nicht bekannt. Die digitalen Medien spielen meiner Meinung nach heute eine enorme Rolle. Natürlich erhöhen sie den "Bekanntheitsgrad", aber noch wichtiger erscheinen mir die Kontakte zu anderen Schriftstellern, ihre Erfahrungen und ihr Wissen um Literatur, Vermarktung und ihre diverse Kreativität, die ich ohne Internet so nicht kennengelernt hätte. Seither traue ich mich so zu schreiben, wie ich es möchte und nicht, wie es erwartet wird. Besonders "Facebook", wo wir uns tatsächlich kennengelernt haben, bietet mir in dieser Hinsicht viele Möglichkeiten... aber natürlich wird man auch manchmal mit den dunklen Seiten (Neid, Ideologie, Missgunst) der virtuellen Öffentlichkeit konfrontiert, ja..aber wirklich selten. ebooks halte ich für eine gute Ergänzung zum gedruckten Buch. Ich persönlich nutze sie nicht, aber meine Lyrik kann gerne (ergänzend) in ebooks "angeboten" werden. Das finde ich völlig in Ordnung und wird auch geschehen... Es werden (Hurra!!) in diesem Jahr (und im Nächsten...) gleich mehrere meiner Gedichtbände in verschiedenen grossartigen Verlagen erscheinen. Das ist viel mehr als ich mir wünschen konnte und sollte und so freue ich mich, unter Anderem... deswegen..., sehr auf dieses "Literarische Jahr". Wie die Verlage diese Bücher bewerben, werde ich ja dann sehen...

 

06.nahbell-frage


wow, wie cool! aber was heisst denn "mehrere" gedichtbände: sind das alles neue, frisch geschriebene (gibts das: dass man an mehreren gleichzeitig schreibt?) oder sind darunter auch ältere, die bislang nur im selbstverlag erschienen waren? wovon handeln deine allerneuesten produktionen? kommt da die pandemie irgendwo auch drin vor (ich hatte mir eigentlich geschworen, das virus nicht zu erwähnen, weil ich das thema für ausgereizt halte) oder bist du immun gegen trendthemen? hast du ein brandneues (lockdown-)gedicht für die leser parat? was sind deine hauptthemen beim dichten? gibt es bei dir regelrechte lebensthemen? wieviel biografie und wieviel fiktion oder rein sachliche reflektionen stecken in deiner lyrik? lässt sich überhaupt rein sachlich dichten (damit meine ich nicht emotionslos, sondern nur frei von persönlichen einfärbungen) oder ist das gar nicht erstrebenswert? was hat die lyrik überhaupt für eine aufgabe, einen sinn in der welt? trägt ein lyriker für irgendwas eine verantwortung? wie frei ist die freie dichtung???


06.nahbell-antwort


Na, das sind schon mehr oder weniger "frisch Geschriebene" Gedichtbände. Einer davon ist eine Art "Best of" des letzten Jahrzehnts, 2022 wird ein "ganz frisch Geschriebener" zu einer speziellen Thematik erscheinen, zwei sind aus den Jahren 2020/2021, davon ist ein Band eine Kooperation mit einer wunderbaren jungen Lyrikerin..man wird sehen... Gleichzeitig wurden sie zwar nicht geschrieben, jedoch manche Texte vermählen sich gerne mit Naheliegenden. Ein paar der Gedichte aus den "selbstverlegten" Bänden finden dann aber auch ein neues Zuhause. Wovon alles handelt? ...dem möchte ich (noch) nicht vorgreifen. Ich glaube, alle Texte handeln von dir/mir/uns...Allen! Es geht ja gar nicht anders... Den Virus habe ich gemieden, trotzdem taucht hier und dort eine neue pandemische Begrifflichkeit (von der natürlich ein Jeder täglich verfolgt wird...) in seltsamen Zusammenhängen auf. Aktuellen Trends folge ich dennoch ganz bewusst nicht so gern. ...hier ein neues (lockdown)-Gedicht? Ist das eins?


Impfreihenfolge


Vorsätze
was sind Vorsätze?
es ist heute
wie Frühling
die Frauen tragen helle Röcke
das Raucherzelt liegt im Nebel
im Schankraum
lässt der Wirt
ohne Aufzusehen
Bier in ein Glas laufen
Schaum tropft über den Rand
der Hahn wird geschlossen
und wieder geöffnet
ein zuverlässiges Spiel
beruhigt es doch
meine innere Ruhestörung
endlich erreicht der Trank
erst Hand
dann Maul
ich trinke bedächtig
Schluck für Schluck
ohne abzusetzen
alles leer
hinterlässt es doch
eine helle Leichtigkeit
die vorher nicht in mir war
ich werde eine Mutation
mein Kopf impft sich frei
ein zuverlässiges Spiel
Vorsätze
was sind Vorsätze?
es ist heute
wie Frühling

 

Wie Du schon richtig aufgezählt hast "steckt" in meiner Lyrik:  Biografie, Fiktion, Selektion, Erfahrung und Experiment. Sachliche Dichtung halte ich für ein Paradoxon. Gedichte haben meiner Meinung nach die Aufgabe, Denken sichtbar zu machen... vielleicht das Menschliche...? Verantwortlich sind die Verse aber nur für sich selbst und insofern...frei!

 

07.nahbell-frage


wenn ich diese wunderbaren zeilen lese "ich werde eine Mutation / mein Kopf impft sich frei / ein zuverlässiges Spiel / Vorsätze / was sind Vorsätze? / es ist heute / wie Frühling", dann fällt mir sofort die schauspieleraktion #allesdichtmachen ein, deren satirisch-dadaistische kritik am umgang mit der pandemie bei manchen neulich erst zu empörung geführt hat. aber sowohl der alkohol als auch den humor an sich zu behalten, schafft doch erleichterung für das besorgte gemüt und befreit den geist von der bedrückung, die auf ihm lasten kann, wenn er tageintagaus nur noch massenmedial von coronafakten berieselt wird. das fühlt sich eben nicht wie frühling an, sondern eben nur "wie" frühling, wie du es so düster sarkastisch formulierst. ich hoffe, ich hänge mich da jetzt nicht zu weit aus dem fenster mit der interpretation, aber dein gedicht löst ne menge in mir aus. auch george orwells "1984" wird da wieder präsent: wozu denn noch gute vorsätze machen, man fühlt sich wie eine verbotene mutation, wenn man nicht trendgerecht denkt, sondern den gesellschaftlichen winter mit einer trotzigen fröhlichkeit überwindet, als sei wirklich der frühling angebrochen! ach ja, es ist ja tatsächlich "eigentlich" frühling, trotz ausgangssperre und inzidenzwerten, die steigen und fallen wie der zuverlässige bierpegel... also dein pandemiegedicht provoziert und ich wette, es spricht so manchem aus der seele! wieviel politik oder gesellschaftskritik steckt denn so generell in deiner lyrik? hast du sogenannte politlyrik geschrieben, die ein verfallsdatum hat? wenn wir irgendwann hoffentlich als pilotteam der reihe POESIEPANDEMIE (zu viert mit Chlada & Kerenski) vor analogem publikum auftreten können: was wird uns von dir literarisch erwarten? bestimmt keine kitschigen liebesgedichte? apropos: wie sieht ein kappelsches liebesgedicht eigentlich aus? gibt es die in deinem werk? und was mich auch brennend interessiert: wie sieht dein langfristiger plan, deine VORSÄTZE für deinen lebensabend aus? du wirkst ja nicht gerade wie ein gelangweilter pensionär, sondern eher wie im zweiten frühling: letztes jahr wunderte man sich bei sigune schnabel, wie sie herumgereicht wurde und einen preis nach dem anderen abstaubte. ist kappel das männliche pendant zum schnabelschen erfolgsrezept? wie sieht die zukunft des dichters und musikers kappel aus? mit was müssen wir leser in den nächsten jahren noch rechnen? romane? theaterstücke? deutschland, ein frühlingsmärchen? oder bist du der trend, gegen du selber irgendwann rebellierst?


07.nahbell-antwort

 

Um nochmal kurz zur momentanen Situation etwas zu sagen: dieses Virus scheint an seiner Oberfläche mit Schaufeln ausgestattet zu sein, mit denen es tiefe Gräben quer.. durch unsere Gesellschaft zieht. Wir werden lange brauchen, diese Gräben wieder zuzuschütten... vielleicht können Worte ein bisschen dabei helfen, vielleicht können sie aber auch den Spalt vertiefen. Wir werden sehen und werden hoffentlich nie aufgeben. Gesellschafts/Beziehungskritik ist sicher eine wichtige Motivation meiner Lyrik (bitte ohne Verfallsdatum...). Ob sie allerdings tatsächlich in der Realität etwas bewirken kann...ja...nun...möglich... wünschenswert wahrscheinlich. Für unsere schöne und hoffentlich bald machbare Lesereise kannst Du "harten Stoff" erwarten, wie könnte ich sonst neben meinen toughen Mitstreitern (Kerenski, Chlada & De Toys) bestehen? Von Stoff existiert genug in meinen Gedichten, mehr als genug... und natürlich gibts auch "Liebesgedichte" (...meine primäre Intention zum Schreiben...haha...):

 

weiß nicht

 

hier komme ich

in der einsamen Nacht

mit schönen Schritten

lebendig

aus der Erde

ich ertaste die dumpfe Schwerkraft

unsichtbar

blüht sie

wie ein zäher Sumpf

im Herzen

unter dem Druck seiner Rohre

mache ich ins Bett

im Krieg erlauben sie uns das

und unter dem Gipsverband

wartet der nächste Sommer

auf seine Zecken

gerade jetzt soll ich leben

aber warum

weiß ich nicht

ich

ich bin doch nur ein Bettler

aus der Erde

der nach Liebe bettelt

und ein Laugenstück erhält

der den Weg

durch die Schwerkraft

zu den Kloaken kennt

und in Euch

dankbare Krisen auslöst

gerade jetzt soll ich leben

aber warum

weiß ich nicht

 

Meine Pläne für den Lebensabend... Vorsicht Vorsicht... oh Mann, so weit bin ich doch wohl hoffentlich noch nicht gekommen? Klingt so nach "ganz kurz vor dem Ende"... Ich langweile mich ja tatsächlich nicht und das Schreiben sehe ich schon mein ganzes Leben als zweiten Beruf(ung). Sigune Schnabel habe ich recht früh kennengelernt, ihren Weg und ihre Worte verfolgt. Sie ist sich treu geblieben (wichtig!) und hat damit zurecht grosse Anerkennung. Ich selbst kann mich gerade wirklich nicht beklagen, aber kann und möchte mir dafür keine Rezepte ausstellen (gibt`s überhaupt "Rezepte" für Aufmerksamkeit und Erfolg?) Meine Zukunft sehe ich darin, den "Lebensabend" hinauszuschieben, der Trend zu werden, gegen den ich rebelliere, mehr Musik zu machen und zu hören, ja einen Roman...ich glaub schon, Theaterstücke, ein Kinderbuch auf jeden Fall... und wenns für mich und uns noch ein paar "Sommermärchen" geben kann, geb ich die Bestellung hierfür schon mal auf.

 

08.nahbell-frage


das ist gut zu hören! der nahbellpreis wird deine aktivitäten ab jetzt verfolgen und auf seinen diversen kanälen immer mal wieder promoten, so wie ich es bei allen preisträgern sporadisch tue, sofern mir tickermeldungen reingespielt werden bzw ich eure nachrichten nicht verpasse (ich bin ja auch nicht immer online). was mich als letztes noch interessiert, ist die frage, wie dein privates umfeld im laufe deines lebens auf deine kunst reagiert hat: galtest du als abstruser sonderling? hochbegabt oder hochsensibel, was ja heutzutage jeder irgendwie gerne ist (auch so ein trend)? haben sich deine eltern sorgen um deine psychische verfassung gemacht? fand man es merkwürdig, daß du einerseits so "anständig" mediziner wurdest, aber "trotzdem" verrückte dinge unter dem deckmantel der "kreativität" tust? hast du eher mehr zulauf oder mehr misstrauen in deiner praxis als arzt erfahren? und was die liebe betrifft: hat deine frau verständnis für deinen kram? "versteht" sie ES oder DICH oder nimmt sie es nur hin, solange es der liebe nicht schadet? ich bin gespannt auf deine letzten antworten und überlasse dir damit das letzte wort! lieber harald, hau rein! du bist großartig! viel erfolg weiterhin!

 

08.nahbell-antwort

 

Was die Kunst/Musik betrifft, musste ich über keine Steine in meiner Jugend stolpern... einer meiner Väter hat mich musikalisch schon sehr unterstützt. Da meine Frau ebenfalls (Bildende) Künstlerin ist und eigentlich sogar vor mir diesen Weg professioneller und engagierter als ich bestritten hat, hat sie nicht nur Verständnis "für meinen Kram", sondern bringt mich dazu, auf einem ausdauernderen und höheren Niveau zu arbeiten. Nein, nein, das! kann der Liebe nicht schaden. Kunst und Beruf wissen bei mir (vielleicht bis auf "terminologischen Diebstahl") nichts voneinander. Das ist gut, bleibt so und das finde ich wichtig für mich. Klar ist man als Künstler immer irgendwo in seinem sozialen Umfeld ein "Be-Sonderling", aber die allermeisten Freunde finden meine Kunst dann doch mehr oder weniger interessant. Das ist auch Inspiration und da kann und will ich gar nicht klagen. Lieber Tom, ich danke Dir und freue mich!