Zur Pressemeldung vom 21.6.2020 (Lyrikzeitung & Fixpoetry)

21.Nahbell-Hauptpreis an: STEFANIE SCHULTE-ROLFES (und...)

"TIEFE VERBUNDENHEIT IN DER STILLE"

(Die Erkenntnis, dass alles nur Ablenkung vom Wesentlichen ist)

Das große NAHBELL-Interview 2020

 

1961 in Gladbeck geboren.
1976
kam ich auf ein katholisches Mädcheninternat.
1977
verstarb meine Mutter. Mein Vater zog ins Ausland.
1979
Schulabschluss. Ein Jahr Berufsausbildung als Gärtnerin. Auslandsaufenthalt in Finnland. Vier Monate Eisverkäuferin auf Baltrum. Reisen nach Frankreich, Spanien & Portugal - hier entstehen erste Gedichte. Erste lange Reise nach Griechenland auf die Insel Samothrake. Rückkehr nach Deutschland und Umzug nach Berlin in die Hausbesetzerszene. In der Krankenpflege tätig.

1981 zweite lange Reise nach Griechenland - fast zwei Jahre unterwegs. In Ägypten hängen geblieben. Verhaftet worden. In Korkula (Jugoslawien) drei Wochen unschuldig unter Arrest. Ohne Papiere in die Schweiz/Winterthur. Nächste Station Freiburg/Bollschweil. Freundschaft mit Schamanen, Physikern Sufies und (Schein-)Heiligen in Todtmoos. Rückkehr nach Hattingen. Zeit alles aufzuschreiben. Begegnung mit meinem Mann Heinrich Rolfes.
1987 Geburt meiner Tochter Charlotte. Umzug nach Schaumburg (Landkreis). Es entstehen Gedichte und Bilder.
1990 Geburt meines Sohnes Samuel. Entdecke meinen grünen Daumen wieder und lege Gärten an.
1996 Geburt meines Sohnes Camillo. Umzug ins Auetal in ein Haus mit weitem Ausblick. Zum ersten Mal sesshaft geworden. Gedankenreisen.
13 Jahre Küsterin in einer kleinen, romanischen Kirche. Dort Konzerte und Lesungen organisiert. Umzug in ein 120 Jahre altes Haus mit eigenem Zimmer.
2014 Quereinstieg als Buchhändlerin. Seit fünf Jahren leidenschaftlich im Buchladen "Buch&Wein Rinteln" tätig.

 

Gedichtbeispiele im POESIESALON.DE und bei PENDEMIC.IE

 

 

1.NAHBELLFRAGE


Stefanie, es ist mir eine große Freude, Dir zusammen mit der exakt zwanzig Jahre jüngeren Dichterin Sigune Schnabel (und dem Förderpreisträger Oskar Kabel) den 21.Nahbellpreis zusprechen zu dürfen. Du bist damit eine Gewinnerin ohne Publikation, nicht einmal bei unseren Medienpartnern LYRIKZEITUNG und FIXPOETRY trittst Du bis jetzt in Erscheinung! Obwohl Du als Jahrgang 1961 genug Zeit hattest, hast Du Dich anscheinend bis heute im Lyrikbetrieb komplett zurückgehalten - arbeitest aber seit 2014 als Buchhändlerin, kommst also mit Szene-Kollegen indirekt in Berührung! Auch auf den ganzen "social media" Portalen wie Facebook, Twitter und Instagram, wo Du nun von mir beworben wirst, hast Du keine Accounts! Und dann sehe ich in Deinem Lebenslauf, dass du als junge Erwachsene nach einer Gärtner-Ausbildung viel gereist bist, in ferne Länder, wo Du auch ca. 1980 zu Dichten begonnen hast. Diese angedeuteten Reisen wirken wie ein etwas schräger Trip, ein analoger AUSNAHMEZUSTAND, wie auch Dein Gedicht von 1982 heisst:


Ausnahmezustand


Vulkane brechen hervor
man erklärt den Ausnahmezustand
und weitere Tote
Ich will Entscheidungen verschlafen
wie ein träger Hund
Das Radio steigt auf zum Mond


Fenster umschließen die Nacht
Herzen fallen auf die Bordsteinkante
Mein Spiegelbild bekommt einen Rand
aus Amethyst
Meine Haut verdunstet
mit dem blassen
Morgen


Wieso beginnt eine 19-Jährige Gedichte zu schreiben und wem zeigt sie die? Hast Du damals bereits ein Selbstbewusstsein als Poetin entwickelt, oder muss man sich diese frühe Phase als eine Art Trance, einen Taumel vorstellen, eine Entwicklungsphase, von der gerne behauptet wird, dass viele da Hermann Hesse lesen und auf der Suche nach sich selbst sind?


1.NAHBELLANTWORT


Wenn ich an die Anfänge meiner Schreiberei zurückdenke, habe ich folgendes Bild im Kopf: Eine 19-jährige, die mit 20 Mark nach Berlin trampt und sich gleichzeitig zurück in den Garten ihrer Kindheit träumt. Die dröhnende Stadt, der Betonrausch um mich herum, die merkwürdigen Partys in maroden Gebäuden haben mich eher aufgeschreckt, anstatt beflügelt. Etwas verloren, oder orientierungslos ließ ich mich treiben, immer auf der Suche nach meiner eigenen Sprache und Ausdrucksform. Rimbaud und Lasker-Schüler haben mich dann Anfang der 1980 Jahre mitgenommen in ihre Poesie, in eine Sprache, die mir neue Räume öffnete. "Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen..." (Else Lasker-Schüler, aus Weltende ca. 1903) Ja, immer diese verdammte Sehnsucht. Ich wollte meine Welt so verwandeln, dass sie Poesie wird. Zwischenräume in einer lauten Welt schaffen, in denen ich träumen und ausruhen konnte. Ich habe immer stoisch an meinen Träumen festgehalten, bis heute. Meine Texte kennen nur wenige Leute. Einige besondere Freunde und jetzt auch meine Kinder. Mir fehlte immer diese Haltung, um die ich manche echt beneide, dass man seine Sachen raushaut und ranklotzt, um sich einen Namen, oder wer weiß was, in der Szene zu machen. Und schüchtern bin ich leider in dieser Hinsicht immer noch.


2.NAHBELLFRAGE


Das heisst also, als Du ab Mitte der Neunziger als Küsterin einer Kirche Lesungen organisieren durftest, wusste niemand, dass die Organisatorin selber dichtet? Aber Du hast dadurch live miterlebt, wie sich Autoren on stage verhalten, wie selbstbewusst (und sogar profilneurotisch) oder scheu vielleicht auch andere sind? Und Du konntest deren Stimme hören, deren Art vorzutragen, gut verständlich oder so leise genuschelt, dass das Mikrofon übersteuert, wenn man sie laut genug dreht? Immerhin 13 Jahre lang warst Du quasi nebenbei Promoterin von Lesungen, ohne selbst aufzutreten, das beeindruckt mich schon etwas... Und das alles in einer fantastischen Naturkulisse, da wird jeder neidisch, der auch gerne aus den urbanen Betonwüsten flüchten möchte! Wie hast Du Dich von der Rolle als Küsterin zur Buchhändlerin verwandelt und wie lange warst Du dann Buchhändlerin, bis Du dann doch versucht hast, Dich als Dichterin in der Lyrikszene bemerkbar zu machen (wie und wo?), und warum dann überhaupt, obwohl Du noch immer scheu bist?


2.NAHBELLANTWORT


Es war genau genommen 1999, als die hiesige Kirchengemeinde vakant wurde. Wir wohnten mit unseren drei Kindern erst 1 Jahr in diesem Ort, als mich das scheidende, befreundete Pastoren Ehepaar fragte, ob ich nicht "Hüterin" der Kirche werden wolle. Die Kirche war ein Fluchtpunkt und ein sagenhaft schöner für mich. Ich hatte den Schlüssel dafür und machte mit dem Glockengeläut ordentlich Radau im Dorf, fand ich. Wirklich ein heiliger Ort seit 800 Jahren. Besonders die uralte Linde neben der Kirche hatte es mir angetan. Eine Geschichtenerzählerin, eine standhafte Riesin, die ich gern besuche. Ich wollte unbedingt die Konzertreihe weiterführen, wofür die Kirche schon einen guten Ruf hatte. Daraus wurden dann gemischte, internationale Musikveranstaltungen, also weniger Lesungen und alles unplugged, übrigens. Es war Teamarbeit. Sowas läuft ja nicht auf eigene Kappe in einer Kirchengemeinde. Leider war nach 8 Jahren dann Schluss, weil es an Geld für die Künstlergagen fehlte. Ich blieb noch weitere 5 Jahre zuständig für alles mögliche in der Gemeinde, schließlich war es für mich auch ein kleiner Nebenverdienst, auf den ich nicht verzichten wollte. Während dieser "Kirchenzeit" beendete ich eine Ausbildung als ev. Lutherische Lektorin, und anscheinend liegt mir die "Bühne". Jedenfalls wurden mir Gottesdienste und Veranstaltungen anvertraut, die ich vollkommen selbstständig organisiert habe. Da bekam ich Anerkennung und Zuspruch. 2013 mussten landesweit dann Kirchenstellen eingespart werden und es war für mich nach 14 Jahren Zeit zu gehen. Im nahegelegenen Städtchen fand ich dann eine winzige Buchhandlung, in der ich ausgiebig stöberte. Ein tolles Sortiment, viele kleine Verlage und eine supernette Inhaberin. Da hat es gefunkt. Ein Jahr später brauchte sie Unterstützung und ich habe seit 6 Jahren einen neuen Job bei Buch&Wein Rinteln. Gelesen und geschrieben habe ich so oft es eben ging, neben dem ganzen Alltag mit Kindern etc. Von daher ist mir die Lyrikszene nicht unbekannt. Bei FB hatte ich fast 8 Jahre einen Account und lernte Blogger und Literatinnen kennen. Vor zwei Jahren hat ein hiesiger Künstlerfreund meine uralten bis neuen Gedichte in kleine Broschüren gebunden. Die habe ich teilweise verschenkt, ohne besondere Resonanz. Das tut ja immer ein bisschen weh. Ich habe, wie gesagt, nie versucht, mich bekannt zu machen als Dichterin, bis ich deine, für mich sehr ansprechende, NAHBELLPREIS Seite gefunden habe. Ja, und hier bin ich nun.


3.NAHBELLFRAGE


Ich nehme an, eine "Lutherische Lektorin" ist eine Form von Pfarrerin, wenn du sagst, Du durftest Gottesdienste abhalten? Jetzt suche ich in Deinen Gedichten mal nach religiösen Anspielungen... In dem Gedicht "Abschied von meiner Stadt" schreibst Du 1988: "Hier liegt meine Mutter begraben / sogar die Kirchenglocken klingen heimatlich / auch der Wind und der Gesang der Vögel", aber dieses "SOGAR" klingt beinahe zynisch, als hättest Du damit nicht gerechnet, dass die Glocken nach einer Art "Zuhause" klingen könnten, also als ob Du Kirche damals eben eigentlich NICHT als Heimat empfandst, sondern nur gekoppelt an die dort beerdigte Mutter. Und dann finde ich erst 2017 in einem Gedicht ohne Titel die erstaunlichen Zeilen "so schwer geworden / biegst du dich durch / dein Kreuz im Nacken / abgeknickt / weil dir die Mitte fehlt / der weite Blick / aus dem Sichtfeld gerissen" und 2019 im Gedicht "Wie Punkte" die Stelle "Johanniskraut die Teufelskralle / gut gegen finstere Gedanken / Salbei und Jakobsleiter / Planetenblumen". Ist Dein Lebensgefühl eher jenes des zweifelnden Jesus am Kreuz, der sich von seinem kosmischen Vater verlassen fühlt, als das einer Pfarrerin, die vor lauter Frömmigkeit frohlocken sollte? Wie kommt es, dass das Thema Kirche und Gott so selten in Deiner Lyrik auftaucht, obwohl Dein Lebensalltag doch so viele Jahre in einem religiösen Kontext verankert war?


Abschied von meiner Stadt


Hier kenne ich den Regen
meine geliebten Straßen
und den Gruß der Gemüsefrau


Hier lasse ich am Kiosk anschreiben
für Milch und Zigaretten
auch im türkischen Laden
bin ich bekannt


Hier kenne ich die Gestrandeten
und Bettler,
wo die Luft nach Schwefel riecht
und die Arbeiter nach Kernseife


Hier liegt meine Mutter begraben
sogar die Kirchenglocken klingen heimatlich
auch der Wind und der Gesang der Vögel


Hier wo neue Straßen entstehen
neue Parks
wo einst alte graue Häuser standen


Hier wo der rauchende Himmel nachts hell wird
grausam hell


Hier wo die Säufer auf den Rentnerbänken
immer jünger werden
und der Staub auf den Maschinen Jahre zählt


Hier lob ich mir die Wiederkehr
vertraute Gesichter
und die ewigen Träume der Ferne

 

Wie oft schon
wolltest du Falke sein
der Türme umkreist
deinen Kopf
durch Wolken zieht
dem du glaubst
wenn er ruft
dass er dich meint
die da unten steht
und hinaufblickt
mit grober Erde am Stiefel
von zerfurchtem Acker
mit dem Kopf im Nacken
dem schweren Kopf
der fast abfällt
von all dem Abfall
so schwer geworden
biegst du dich durch
dein Kreuz im Nacken
abgeknickt
weil dir die Mitte fehlt
der weite Blick
aus dem Sichtfeld gerissen
ohne Flugkraft
weil du kein Falke bist

 

3.NAHBELLANTWORT

 

Gott ist ein prägendes Thema in meinem Leben, nicht Kirche. Ich bin katholisch aufgewachsen im Pott und Kirchgänge gehörten natürlich dazu. Gott wohnte, malte ich mir als kleines Mädchen aus, im geheimnisvollen Tabernakel hinter dem Altar. Außer still sitzen, fand ich alles sehr mystisch am Sonntagmorgen in der Kirche. Die bunten Gewänder und die lateinischen Gesänge, und der heilige Geruch. Das Weihwasser am Eingang war ja da, damit einem keine bösen Sachen passieren. Sehr tröstlich. Am Ende des Gottesdienstes flitzte ich in die Kirchenbücherei um Bücher abzugeben oder neue auszuleihen. Alles war o.k. Ich war umgeben von Geborgenheit und eben Gott. Als jugendliche Rebellin bin ich ausgetreten, aus dieser ziemlich frauenfeindlichen Institution Kirche. Da war nichts mehr mit Mystik, sondern politisches Engagement war angesagt. Ist doch klar! Später sollte sich das wieder umkehren bzw. vermischen. Wie das so ist im Leben. Schöpfung ist ja auch nix statisches, sondern schöpferisch. Die Ausbildung zur ehrenamtlichen, evangelischen Lektorin verschaffte mir in dieser niedersächsischen Dorfeinsamkeit einfach neue SpielRäume. Es war eine ziemlich bereichernde Zeit. Außerdem konnte ich immer den wunderbaren Hanns-Dieter Hüsch in meinen Predigten mitreden lassen. Eigene Texte von mir sind da auch entstanden, aber ich habe vieles bereits zum vermodern im Garten vergraben. Da wächst gerade Wiesenschaumkraut drüber. Der Dichter SAID, den ich sehr schätze, hat es im letzten Jahr bei den "Poetischen Quellen" in Bad Oeynhausen mir gegenüber so ausgedrückt: Einer zu sein, der Gott sucht, das ist richtig gut! Bei aller Kritik an Kirche und Glauben, brauche ich persönlich sowas wie heilige Räume und die Bergpredigten, die Liebes- und Klagepsalmen und im Grunde die Poesie einer religiösen Mit-Menschlichkeit. Das Biblische, das Ur-Alte, was ja auch gegenwärtig ist. Also, so eine Art Ewigkeitsgeschichte. Wo finde ich diese tiefe Verbundenheit und das alles noch, wenn nicht in einer alten Kirche, oder in meinem Lieblingskloster Amelungsborn? Räume haben für mich eine wichtige Bedeutung. Vor allem, wenn es still dort ist, wenn eigentlich nichts geschieht, außer der Bewegung des Lichts, welches durch buntes Fensterglas an Jahrhundertealte Mauern reflektiert wird. "Die Stille ist’s, die überlebt" sagte Hüsch. Irgendwann hatte ich jedenfalls genug vom gesprochenen Kirchenwort und leitete fortan Meditationen. Aber auch das ist Schnee von gestern. Sprachräume, Lebensräume, Klangräume, Spielräume, Zwischenräume, Küche, Bad und Abstellkammer. Ich befürchte, deine Frage nicht beantwortet zu haben, oder doch?

 

4.NAHBELLFRAGE


Diesen uralten Raum der Mitmenschlichkeit, wo religiöse Verbundenheit in der gegenwärtigen Gegenwart gespürt wird, hast Du also zunehmend in der Stille, also jenseits der Sprache, gefunden, bis sogar diese meditative Erfahrung zu exklusiv wurde, und daher die Banalität aller Lebensräume an sich zur erfahrbaren "Bewegung des Lichts" wurden? Das klingt nach einer christlichen Zen-Theorie! Und es erklärt mir die Stimmung des Gedichts "Spätnachmittags" von 2019, das sich atmosphärisch abhebt von den davor geschriebenen, indem es sehr ruhig geworden ist darin und die Ankunft in der Stille tatsächlich in einem einzigen konkreten Zeitraum (Raum der Zeit!) geschieht:


Spätnachmittags


Der Himmel steht still
ruhiger Flügelschlag
einer schneeweißen Taube
im Park Schlehen und Weißdorn
unzählig die Bewegung
Zeit 16.30
ahnend wühlt sich das Leben durch
Wind flattert
in einem blauen Schultertuch
dein Lächeln entwischt mir
Spätnachmittags


Ist das bereits ebenfalls "Schnee von gestern" oder die Richtung, in der Du aktuell Sprache poetisch benutzt? Wie geht es weiter? Hast du ein topaktuelles Gedicht zum Vergleich?

 

4. NAHBELLANTWORT


Momentan schreite ich sprachlich eher durch Verwüstungen. Da treffe ich mich ganz neu an, mit dunklen, wütenden Kleidern. Stille ist aber ein Grundrauschen bei mir. Darüber zu schreiben ist gar nicht so einfach und braucht sehr viel Konzentration und Kontemplation. Das kommt irgendwann wieder, wenn ich alt bin. Ich liebe das Gedicht "Hinter den Häusern" (2017). Etwas aktueller ist dieses hier, aber da musst du dir vorstellen, dass ich es auf einer alten Bruchsteinmauer geschrieben habe.


Politische Reden


In der kleinen
Kopfsteinpflasterstadt
mit ihren
Springbrunnen
und blitzblanken Butzenscheiben
den politischen Reden
in weißen Zelten
da bleibe ich draußen
betrachte das Mauerwerk
an dem sich giftgrüne
Schlingpflanzen verdrehen
um Leben bemüht
ringend mit sich selbst


Neben gotischen Bögen
des Kirchenportals
bellt ein Hund
sucht nach Peter Pan
dem Erlöser
Nimmerlandsverleugner
sprechen durchs Mikrophon
immer lauter
im weißen Parteizelt
ein Rauschen
in ergrauten Köpfen
Angst verbreitend


Wucherungen
im saturnischen Efeu
im sauren Morast
nicht gestorbener Natur
der Wind weht schon
gelbe Blätter
in's weiße Zelt
die Gespenster aber
sie tanzen hinaus
sitzen mit mir auf der
Bruchsteinmauer
und warten auf Stille

 


Hinter den Häusern
verschwindet der Lärm
da liegen Gedanken auf
Gartenbänken
und sinnen der Sprache
der Vögel nach


Hinter den Häusern
wohnt die Zeit
da flattert die Wäsche
getan die Arbeit
und Wind weht
durchs Haar


Hinter den Häusern
übersieht man nichts
da spielen die Kinder
verstecken
und Gras ist grünverliebt
erstaunlich der gelbe
Falter darin


Hinter den Häusern
ist es ganz hell

 

5.NAHBELLFRAGE


Sind das dieselben Gespenster, die du bereits 2008 thematisierst, und von denen Du damals sagtest, es gäbe sie nicht? Haben sie sich etwa verwandelt und sind nun zurückgekehrt, um Deine bereits gefundene Stille zu (zer)stören? Oder ist da die junge Rebellin wieder in Dir erwacht, die irgendwie doch nicht vor der Welt in die Stille flüchten kann, sondern sich der gröhlenden Gesellschaft stellen will? Was ist passiert? Die ganze Mystik war doch nicht bloß eine esoterische Lebensphase ohne nachhaltige Relevanz? Was wird die Frau als nächstes machen, die da auf dem Mäuerchen wartet? Wie viel Geduld hat sie? Wie wird sie ihre Wut kanalisieren? Womit haben Deine zukünftigen Leser thematisch zu rechnen?


Gespenster


Unterwegs ins Blaue
über Land
flattern Gespenster
alles was war
in Blau getaucht
nichts leichter als das


Blau tanzt
auf Telegrafenmasten
sitzt auf Bäumen
legt den Arm um mich
sagt
alles was war
ins Blaue
und
dass es Gespenster nicht gibt

 

5.NAHBELLANTWORT


Ja, meine Gespensterchen, da schlägst du einen geschickten, fast schon psychologischen Bogen. Ich sagte am Anfang dieses Gespräches, dass ich stoisch an meinen Träumen festhalte und ein poetisches Leben führen wollte. Wir gehen ja immer in Begleitung unserer Vorstellungen. Da ist so vieles in diesem Leben, was man nicht aufdröseln kann, worüber wir nicht bestimmen können. Da sind Andere (Gespenster), die sich anmaßen, über dich verfügen zu können, dich in eine Schublade stecken, dich irgendwo hinziehen, wo du aber gar nicht sein willst. Jeder, der nicht ganz besinnungslos ist, kennt innere Zerwürfnisse und bedrohliche, gespenstische Zustände. Momentan zum Beispiel diese Virusgeschichte. Was macht das alles mit uns? In solchen Lebenslagen lässt sich ja bekanntlich gut schreiben. Und natürlich habe ich manchen Text verfasst in den letzten Tagen und Wochen. Da weiß ich nicht, wohin das dichterisch noch führt bei mir. Wut habe ich weniger. Aber es brodelt :) Die Gespenster sind aber gar nicht böse oder erschreckend, sie sind einfach nur da. Ich setze mich inzwischen gern mit ihnen mal auf ein Mäuerchen oder fahr ne' Runde um den Block... ...mit den Geistern die ich rief. Vieles geht eben wirklich nur vorbei, wenn man miteinander ins Gespräch kommt. Ich habe gute Bodenhaftung und kann einen 1 A Kopfstand.

 

6.NAHBELLFRAGE


Muss ich mir das so vorstellen, daß für Dich heute beides gleiches Gewicht hat: die Stille und das Brodeln, die "Ewigkeitsgeschichte" und die Gegenwart der "Gespenster"? Mir fällt dazu Dein Gedicht von 2011 ins Auge:


Dazwischen
Zwischen allen Geräuschen
das Wetter
warm ist es nicht
Es werden Bäume gefällt
Kinder geboren
der Mond scheint beharrlich
Zwischen allen Gedanken
der Traum
Koffer in der Hand
Es werden Worte gewogen
Kriege geführt
Sterne leuchten wie eh und je
Zwischen allem Leben
der Wunsch
zärtlich wäre schön
Es werden Feste gefeiert
Trauerreden gehalten
der Wind weht wo er will


In diesem Gedicht gehen für mich die Kontraste problemlos ineinander über, fusionieren quasi zum Ganzen! Ich muss dabei unwillkürlich an das Buch "Vom doppelten Ursprung des Menschen" (von Karlfried Graf Dürckheim) und Wim Wenders Film "Der Himmel über Berlin" denken, weil die Engel da auch beide Seiten kennen! Wo positioniert sich in diesem Spektrum der Wahrnehmung Dein Ich in Coronazeiten? Gibt es das Ich überhaupt bei Dir, oder bist Du nur "transpersonale" Beobachterin auf beiden Seiten der Medaille? Möchtest Du dem Leser ein lyrisches Beispiel dazu liefern, wie Dein Lebensgefühl heute im Lockdown ausschaut? Rückt Deine Sehnsucht, die Welt so zu verwandeln, dass sie Poesie wird, in unerreichbare Ferne angesichts der Brutalität des Realen? Oder wachsen Deine persönlichen Zwischenräume zum Ausruhen gerade mit solchen Krisen in ungeahnte Dimensionen? Wann wäre ein Leben ganz ohne Poesie möglich oder gar wünschenswert?


6.NAHBELLANTWORT


Ein Leben ohne Poesie? Auf meinen frühen Reisen habe ich mich ausführlich mit Laotse und mit dem I GING beschäftigt. Wörter wie "Beharrlichkeit" und "Gleichmut" und das "ewig Wiederkehrende" kommen da vor. Ich entdeckte, dass Poesie ein Lebensgefühl ist. Stundenlang in die Wolken schauen, mich treiben lassen, träumen und viele Sachen bewundern. Das alles ist geblieben, ich habe es mir nicht nehmen lassen und profitiere bis heute davon. Verstehst du? Was ist denn Zeit? Das Leben jedenfalls ist ein großes Wunder. Und Poesie ist ja nicht etwas Ausgedachtes oder eine Mode. Wir müssen nicht ständig produktiv sein und alles nach außen stülpen. Alles hat seine Zeit, aber momentan müssen wir die POESIE bewahren mehr denn je, sie schützen vor Wörtern wie "Systemrelevanz" oder "Social Distancing", uns also in acht nehmen vor so einer Art Kriegsrhetorik wie "unsichtbarer Feind" und "Ausgangssperre" und so weiter. Resonanz ist z.B. so ein Wort, das sehr, sehr viel mit Poesie zu tun hat. Es klingt zumindest schon mal wie Umarmung und Wiesenschaumkraut und wie Wärmerückkopplung. Ja, so sehe ich das. Bücher lesen hilft ja auch über vieles hinweg. Ich lese gerade Laurie Lee: "An einem hellen Morgen ging ich fort." Ganz wunderbar. Diese Art poetische Literatur aus dem letzten Jahrhundert vor dem zweiten Weltkrieg macht verständlich, dass wir immer auf einem Vulkan tanzen und der Schrecken temporär ist. Krisenzeiten sind total nutzlos. Sie drücken herunter, hemmen, verwirren und verdunkeln den Geist! Mir geht es trotzdem gut, ich bin dankbar für die Milane, die Sterne und den weiten Himmel hier und freue mich sehr gerade über unseren Austausch. Wir wissen nie, was morgen ist. Es ist auch etwas seltsam, dass wir uns immer so sicher sind, alles zu wissen und letztendlich wissen wir nichts. Hier ein Text, den ich gestern nach dem Einkaufen in einem leicht wütenden Tempo geschrieben habe. Es gibt aus der letzten Zeit eher Prosa, keine Gedichte.


Türen zu
Schuhe aus
Nicht ins Gesicht fassen
Hände waschen
Einkauf auspacken
Schlüssel ablegen
Merken wo
Butter vergessen
Schuhe an
Hände waschen
Schlüssel suchen
Mundschutz auf
Atem kontrollieren
Menschen meiden
Umeinander kreisen
Abstandsgedränge
Geschimpfe
Geduldsproben
Pass bloß auf du
Nur für Butter
Nicht rennen
Atmen
Schweiß abtupfen
Oder Tränen
Sich normal fühlen müssen
Mit Mundschutzmaske
Und beschlagener Brille
Nicht an die Lippen fassen
Warten vor dem
Kühlregal
Nur für Butter
1.5 m
Besser mit Karte zahlen
2,59
Hinter Schutzscheiben
Sitzt die Angst
Tür aufschließen
Schuhe aus
Mundschutzmaske ab
Hände waschen
Endlich Augen reiben
Gesicht abtasten
Den Spiegel küssen
Luft holen

 

7.NAHBELLFRAGE


Ja, mir geht es da mit dem Virus sehr ähnlich, ich kann das Wort "Soforthilfe" zum Beispiel überhaupt nicht mehr hören. Und "Systemrelevanz" und "Social Distancing" sind da nicht besser. Aber andererseits sind Krisenzeiten doch nicht nur nutzlos, sondern machen auch produktiv und erfinderisch, jedenfalls den, der sich nicht verwirren lässt. Wir beide würden zum Beispiel vielleicht dieses Interview nicht so tiefenentspannt führen? Ich hätte das Offlyrikfestival nicht für die learn:line des Schulministeriums aufbereitet (obwohl ich es heimlich von Anfang an als Lehrstoff visioniert hatte) und auch nicht beim irischen Projekt PENDEMIC.IE mitgemacht, wo ich Dein Coronagedicht auch gerne sehen würde. Dieses Gedicht hat zwar eine gehörige Portion "Wut", wie Du es nennst, aber von Verdunklung und Verwirrung des Geistes spüre ich da zum Glück gar nichts, im Gegenteil: Du bist so nah an Dir selber dran, Du spürst die Selbstliebe und erkennst das paranoide Verhalten Deiner Mitmenschen, die Dich zum Teil zwingen, den Zirkus so mitzuspielen. Diese innere Distanz führt doch zu Deiner poetischen Kraft, wie man ja sieht! Ich will hier auf Deine Prosa nicht eingehen, obwohl sie mich neugierig macht. Aber den Preis kriegst Du ja für die Lyrik, daher konzentriere ich mich jetzt darauf. Ich frage mich, wie sich Dein Lebensweg weiter entwickeln wird: wohin es Dich treibt, oder wohin Dich der Wind weht. Da Du ja angeblich gut vortragen kannst, merke ich Dich mal als potenzielle Kandidatin für das 4.Offlyrikfestival am 3.7.2037 vor. Ich nehme dafür wieder nur solche Lyriker, die performativ interessant sind und nicht ausdruckslos in sich hinein nuscheln. Bei Dir scheint es da ja einen Unterschied zu geben in der Scheu, mit Deinen Texten rauszurücken und andererseits dem Selbstbewusstsein "on stage". Das Problem sind doch im Grunde schon immer die leisen Texte, die eher zum still Lesen gedacht sind anstatt sie zu brüllen, wie es mit Deinem Coronagedicht durchaus auf einem Poetryslam möglich wäre! Ich stelle mir gerade tatsächlich vor, wie Du auf einer Slambühne brillieren würdest! Hast Du das nicht sogar irgendwann mal erwähnt... da war doch was? Auch eine CD könntest Du gut mit Deinen Gedichten aufnehmen! Ja, präsentier Dich doch mit Deiner eigenen Stimme auf SoundCloud: Die Autorin liest selber aus ihren Werken... aber Du hast Dich ja aus dem virtuellen Raum wieder gelöscht, was ich jetzt sehr bedaure. Was hat Dich dazu veranlasst, nachdem Du doch einige Jahre online warst? Wirst Du zurückkehren? Vielleicht führt der Nahbellpreis ja dazu, dass manch ein Kollege das Interview liest und Dich gern "finden" würde. Oder brauchst Du einfach Deine Ruhe, ohne dass da eine Aversion besteht?


7.NAHBELLANTWORT


Eben las ich das Wort "Einstweilige Außervollzugsetzung" in einem Bericht über die "Lockerungsmaßnahmen" und beigefügt war dann noch das Wort "Zugangssteuerung". Braucht es Krisenzeiten, Ausgangssperren und Meldepflichten (Gesundheitspolizei), um ins Nachdenken, Umdenken, Überdenken zu kommen? Ich brauche das nicht, ganz sicher NEIN! Mich verwirrt das schon, da bin ich eher bei den Anderen und nicht bei mir selbst. Es ist zum Heulen, wenn Menschen unbeholfen und verstört und gedemütigt und verunsichert Masken über ihre Gesichter stülpen, um Brötchen zu kaufen oder Bücher. Ich spüre quasi diese Selbstverletzung, dieses "Ich habe Angst und fühl' mich scheiße, aber es geht ja nun mal nicht anders!" Die Aktivitäten bei FB usw. haben mich nach vielen, zu vielen, aktiven Jahren dort nicht mehr interessiert. Ganz einfach. Ich glaube, es war so die Erkenntnis, dass alles nur Ablenkung vom Wesentlichen ist. Die vielen Infos und Spitzeleien und Lästereien haben mich müde, traurig und einsam gemacht. Warum muss ich mich von wildfremden Leuten beleidigen lassen, bloß weil ich als Internationalistin dafür bin, dass die Welt bunt durchmischt und gerecht wird? Ich fühlte mich wie in einer Kapsel mit meinem eigenen Wetter. Wegen der wunderbaren Bilder von Arseniy Lapin (ich war etwas verliebt in ihn und wäre sogar beinahe nach Russland ausgewandert) wäre ich gern noch geblieben. Aber jetzt träume ich manchmal von ihm und dem dunklen Blau seiner Welt. Diese virtuellen Räume sind hübsch für eine Weile, ich habe gern darin herumgespielt, aber ich konnte mich nicht mehr abgrenzen, mich nicht mehr konzentrieren... war alles too much. Ich vertreibe meine Zeit lieber hier im Dorf bei meinen Büchern und den Milanen und Wolken. Hier bin ich in Sicherheit ich verschrecktes HUHN!!! Und ja, ich habe dir doch ein Dorf-Slamgedicht für den Poesiesalon eingereicht. Das ist klasse und gehört sehr behäbig vorgetragen - Glackglackglacker... das ist der Refrain! Hahaha... Und wohin mich der Wind morgen oder in 100 Jahren weht, kann ich schlecht sagen. Ich halte nichts von Prognosen.

 

8.NAHBELLFRAGE

 

Apropos Bücher: hast Du Lieblingslyriker(innen)? Hat Dich irgendein Gedichtemacher geprägt oder beeinflusst? Fühlst Du Dich einer bestimmten Strömung oder literarischen Schule zugehörig? Als Buchhändlerin "musst" Du doch bestimmt jede Menge Preisträgerbestseller lesen, um den Kunden gut zu beraten? Fällt es Dir dann leicht, einem Lyriksuchenden zu sagen: Das kannste in die Regentonne hauen? Oder: Das ist zu gewagt - oder andersrum: zu gewagnert? Als Selbstschreibender sitzt man ja ganz schön im Glashaus und wirft womöglich mit zu schweren Ziegelsteinen...

 

8.NAHBELLANTWORT

 

Momentan mag ich sehr Nadja Küchenmeisters Gedichtband "Unter dem Wacholder". Sie spricht mein Herz an. Sie zu lesen ist wie ein Treffen auf einer Parkbank mit einer alten Bekannten, die man aber gar nicht kennt. :) Ich komme aus einem Elternhaus, in dem viel gelesen wurde bzw. mein Vater war bis zum Ende seines Lebens ein toller Rezitator. Es gab Ringelnatz und Rilke und Roth, Hesse, natürlich Goethe und Kaschnitz und Kaleko, japanische HAIKUS und Edith Piaf und Hildegard Knef. Ich konnte die Dreigroschenoper fast auswendig mitsingen und das Musical Anatevka hat mich thematisch geprägt. Mein Elternhaus hat mich, was Sprache betrifft, jedenfalls sehr, sehr wesentlich geprägt. Schule nicht. Schule war für mich Verknastung, ich war sehr unglücklich dort. Ein Gedicht zu analysieren fand ich furchtbar und grammatische Formeln habe ich nie verstanden und mich sehr damit herumgequält. Und bis heute denke ich, es steht mir, auch eben wegen meiner nicht fachlichen Kompetenz, überhaupt nicht zu, Lyriker/innen zu beurteilen, zu bewerten. Man kann so vieles intellektuell zerpflücken, zerreden und zerreißen... davor fürchte ich mich richtig. Und in manchen Texten zerreißen sich die Autoren und Autorinnen schon im Vorfeld selber, das ist am allerschlimmsten. Das tut mir persönlich einfach weh. Ja, und ich habe mich für Jan Wagner und die Lyrikszene gefreut, dass endlich mal der wichtige Leipziger Buchpreis einem Lyriker zukommt. Klasse. Viele fanden seine "Regentonnenvariationen" toll. Natürlich haben wir das im Buchladen auch verkauft und natürlich gibt es ein Lyrikfach mit unterschiedlichsten Titeln und Autoren. Auch viel Exillyrik, Fluchttexte von noch unbekannten Lyriker/innen. Trotzdem ist Lyrik ein Ressort, das in unserem kleinen Städtchen selten bis nie nachgefragt wird. Außer Gedichte, die glücklich machen, als Mitbringsel für eine Feier. Ach so, nein, ich fühle mich zu keiner Strömung zugehörig, weder literarisch noch künstlerisch noch religiös und auch nicht politisch. Ich ströme immer wieder zu mir selbst hin... ...und da gibt es manche Strudel, Wasserfälle, Rinnsale und Untiefen, aber keine Regentonnen :)

 

9.NAHBELLFRAGE
 
Auch wenn Du keine Prognosen über die Zukunft machen willst, erlaub mir eine letzte Frage zu den Strudeln, Wasserfällen, Rinnsalen und Untiefen, mit der ich das Interview gerne beenden würde, insofern Dir selber nicht noch irgendetwas am Herzen liegt, das ich vergaß zu erfragen. In dem Fall erzähl bitte drauf los; denn der Leser ist gewiss ebenso neugierig wie ich darauf, eine Dichterin aus ihrem Nähkästchen plaudern zu hören! Also: die Strudel... du hast ja bisher keine Veröffentlichung in einem Verlag, sondern "nur" diese wunderschönen selbstgemachten bibliophilen Broschüren. Was planst Du als nächstes zu veröffentlichen - und wie? Wirst Du vielleicht doch noch ein Manuskript irgendwo hinschicken, auf die Gefahr hin, eine Absage erteilt zu bekommen? Oder bleibst Du in dieser Schiene des Selbstverlegten und damit auch in der künstlerischen Freiheit, den Look des gesamtes Endprodukts selbst kontrollieren zu können? Die Meinung von so manchem "konservativen" Kollegen über Selfpublishing ist ja eher ein pikiertes Naserümpfen. Kannst Du das nachvollziehen? Michael Gratz, der emeritierte Lyrikprofessor der Uni Greifswald, der die LYRIKZEITUNG betreibt, entgegnete ja vor vielen Jahren einmal einem skeptischen Lyriker, der den Nahbellpreis abfällig kommentierte:
 
"Nahbeller? Während zu dieser Stunde die Agenten der großen Verlage auf die Siegerkürung in Klagenfurt warten, müssen Sie sich mit dem Selbstverlegen Ihres Werks abmühen. Der österreichische Autor Franzobel hatte zehn Bücher im Eigenverlag oder in (aus Sicht des deutschen Literaturbetriebs) kleinen österreichischen Verlagen publiziert. Das elfte Buch erschien 1995 bei Suhrkamp - kurz nachdem er den Bachmannpreis gewonnen hatte. Franzobel scheint nicht klug geworden zu sein, denn einen Teil der frisch gewonnenen Knete steckte er in ein Gedichtbuch von Angelika Janz: Schräge Intention. Gedichte. edition ch, 1995. Welche deutsche Feuilletonredaktion liest Bücher aus solchen Verlagen? In dieser Lage finde ich Aktionen wie die diversen des Instituts für Ganz & GarNix erfrischend und sogar notwendig. (...) Eine respektable Liste - und das ist kein Scherz!"
 
Mir persönlich hat das damals Mut gemacht und mich angespornt, das Projekt einfach als Selbstläufer "weiterzumachen" (Anspielung auf Rolf Dieter Brinkanns Gedicht, in dem alles weitermacht), ohne mich darum zu scheren, was der Betrieb, der von anderen auch schon verschwörerisch als "Literaturmafia" bezeichnet wurde, davon hält. Und immerhin erhielt auch ein Thomas Kunst den Nahbellpreis viele Jahre BEVOR er bei Suhrkamp erschien und damit im Grunde aus dem Kreis herausfällt, der durch den Nahbellpreis gefördert werden soll; denn wer bei Suhrkamp erscheint, hat ja sowieso eine komplette Marketingmaschinerie hinter sich, während jemand wie Du und ich auf sich selbst aufmerksam machen müssen, um ein paar Leser zu finden. Liebe Stefanie, ich bin wirklich sehr glücklich, daß Du Dich für den Nahbellpreis beworben hast. Ich durfte mit Dir einen ganz wundervollen Mensch kennenlernen, der mich auf seine ZUKÜNFTIGE Lyrikproduktion neugierig gemacht hat! Ich danke Dir sehr für die ganze Offenheit, mit der Du hier im Interview für die ZUKÜNFTIGEN Leser einen ersten Zugang zu den Hintergründen Deiner geistigen/schriftstellerischen Motivation ermöglichst! Ich wünsche Dir und uns noch viele "gelungene" Gedichte als Bereicherung der Lyrikszene! Und um es in Coronasprech zu sagen: BLEIB GESUND!

 

9.NAHBELLANTWORT


"Weitermachen" ist die Devise. Für mich in einer eher andächtigen Art und Weise. Kennst du den Film "Das brandneue Testament"? Ich finde ihn großartig. Die schlichte Aussage ist, dass die kostbare Zeit auf Erden und unser Leben wichtig ist. Dass jeder Mensch wichtig und toll und einzigartig ist. Mir gefiel die Darstellung der staubsaugenden Frau dieses prolligen, versoffenen Gottes, also die Gottesmutter (Yolande Moreau). Sie schafft es zum Schluss rein intuitiv mit dem alten DOS Rechner von Gottvater, die kaputte Welt wieder bunt und leicht, verrückt und heil zu machen. Herrlicher Film. Und wenn ich meine Sterbedaten wüsste, worum es im Film ja geht, dann wird jeder Augenblick kostbar, egal ob jemand traurig oder fröhlich, faul oder fleißig, hübsch oder hässlich ist. Das spielt alles überhaupt keine Rolle. Wie komme ich jetzt darauf? In meiner dritten Broschüre geht es um das Thema Tod, um "Ausnahmezustände" und um Auflösungsmomente sozusagen. Ich find's gut, wie es gerade läuft, mein Leben und ich, kann dir keine Antwort darauf geben, was weiter mit meinen Texten passiert. Nein, kann ich nicht! Mir wachsen meine alltäglichen Tätigkeitsfelder oft genug über den Kopf und ich freue mich riesig, wenn noch Zeit bleibt zum Lesen, das ist ja mein Job. Immer mehr Leute möchten schreiben, aber irgendwer muss ja auch Zeit haben, alles zu lesen. Da ist sehr viel Oberflächlichkeit im literarischen Geschäft und auch die Geschwindigkeit, mit der wir andere lesen und beurteilen und zurück ins Regal stellen, ist erschreckend. Die größten alten und neuen Geister werden allzu oft missachtet. Es hat mir sehr viel Freude bereitet, über deine Fragen nachzudenken, über mich nachzudenken und dir zu antworten. Schließlich werden Fragen in der Intensität ja nicht häufig gestellt. Eigentlich nie. Vielen herzlichen Dank.


Mystische Zusammenhänge


Die Mystik
sagt sie
und faltet die rotlackierten Hände
hält die Welt zusammen
unsichtbar heißt nicht
sagt sie
dass es Dinge nicht gibt
da schleichen schon Tote durchs Haus
wehen mit der Gardine
sagt sie
und spitzt die schmalen Lippen dabei
die Geister die du riefst
und siehst du den Balken dort
Wanderer
der sich hebt
ist nicht aus Gold
nach all den Schmerzen
all den Freuden den unendlichen
von den Göttern gegeben
sagt sie
und zaubert sich so zurecht
in ihrem Schaukelstuhl
mit zu viel Puder im Gesicht
und allen heiligen Wassern gewaschen