24.Nahbellpreis 2023

Der Düsseldorfer Künstler & WORTarbeiter Klaus Sievers


Klaus Sievers, geboren am 24.2.1962 in Essen, aufgewachsen in Heiligenhaus, lebt und arbeitet in Düsseldorf. Dort Studium von 1981-1989 an der Kunstakademie bei Prof. Graubner und Prof. Bobek sowie von 1989-1995 Visuelle Kommunikation an der Hochschule. 2018-2021 Kuratierung von Ausstellungen im Ministerium für Heimat, Bau, Kommunales und Gleichstellung NRW. 2010-2012 Lehrauftrag Zeichnung/Druckgrafik an der Universität Siegen. Seit 2006 Entwicklung und Koordination von Projekten der Kulturellen Bildung im Auftrag des Kulturamtes. Zahlreiche Stipendium und Preise, darunter 2022 FBZ Art Award des Forschungs- und Entwicklungszentrums für psychische Gesundheit (FBZ) der Ruhr-Universität Bochum und 2004 Preis des Kulturministeriums NRW im Wettbewerb "Künstler begegnen Kindern und Jugendlichen". Regelmäßige Einzelausstellungen, u.a. 2023 "worauf warten", KUH e.V. Düsseldorf, 2022 QQTec, Hilden, 2020 "Bonbons", Galerie Fiftyfifty Düsseldorf, 2016 "Umwege" (Wortarbeiten) in der Kapelle des Universitätsklinikums Essen, 2010 "Keine Bilder", Johanneskirche (Stadtkirche), 1993 "Buchenwald. Ein Raum", Ringveranstaltung "Düsseldorfer Kultur gegen Fremdenhaß und Gewalt", Stadtmuseum. Teilnahme an Gruppenausstellungen z.B. 2022 "die Große", Museum Kunstpalast, 2021 "Ja und nein", onomato (im Rahmen des Festivals "Digitale Düsseldorf"), 2018 "der dunkle Blick auf die Natur", Kulturbahnhof Gerresheim; 2017 "Edition 12-21" (Licht-Projektion), Kunsthalle; 2011 "tierisch menschlich", Alte Post Neuss; 2005 Große Kunstausstellung, Messe; 2002 "der Erlkönig ist da", Audio-Performance, Goethe-Museum; 1998 "ArToll 98", Rheinische Landeskliniken Bedburg-Hau; 1995 "50 Jahre Kriegsende und Befreiung", BBK Niederrhein/Kempen; 1989 Große Kunstausstellung NRW, Kunstpalast. Homepage: www.klaus-sievers.de Socialmedia: instagram.com/klaus.sievers.art/

WORTARBEITEN IM POESIESALON.de


Das Große Nahbellpreis-Interview:

"BERECHTIGUNG DURCH BERÜHRUNG"

 

1. Nahbellfrage

 

Lieber Klaus, ich gratuliere Dir recht herzlich zum 24. Nahbellpreis, dem heimlichen Lyriknobelpreis und damit bedeutsamsten deutschen Literaturpreis. Bei meinen formalen Worten sehe ich Dich schmunzeln und das ist gut so; denn ich kann diese überkandidelten Selbstbeweihräucherungsfloskeln nur mit bitterem sarkastischen Humor runterleiern, während es natürlich inhaltlich trotzdem stimmt und es mir wirklich eine große Ehre und Freude ist, Dich und Deine Lyrik kennen- und schätzengelernt zu haben. Warum also der satirische Humor: jeder Literaturverein vergibt in Deutschland gerne den wichtigsten Preis und bewirbt seine eigene Bedeutung als Verein durch die selbstgemachte Wichtigkeit seiner Preisträger. Das gesamte Preissystem ist ein riesiger Schwindel, ein Blöff, ja, ein waschechter Schildbürgerstreich! Ein Preis ist wichtiger als der vorherige, eine Preisverleihung jagt die nächste, ein Preisgeld ist höher als das andere! Und die Leser? Schlucken es, glauben es und kaufen die Bücher der Bepreisten oder auch nicht. Das ist der entscheidende Punkt, warum in den Jurys sowohl Lektoren von Verlagen sitzen als auch die Preisträger der Vorjahre: der ganze Klüngel ist eine einzige Vetternwirtschaft und führt schon seit vielen Jahrzehnten zur völlig abstrusen Inzucht. Herangezüchtet wurde der allgemein anerkannte Stil von Gedichten (metaphernschwanger, hermetisch, schwierig, artifiziell, konnotationsreich, gebildet, intellektuell, zeitgeistig), die preiswürdig sein sollen, herangezüchtet wurde über Generationen die Leserschaft und herangezüchtet wurde auch der Dichtertypus, der solche Gedichte abliefert, um Geld zu bekommen. Das deutsche Preissystem ist ein Prestige- und Profitsystem, es geht nicht um Literatur, sondern um Verkaufszahlen! Darum muss Preisdichtung ZEITGEISTIG relevant sein, aber ist darum nur sehr selten ZEITGEMÄß und originell. Und bei diesem Stichwort kehre ich von meinem kurzen Abstecher in die Bestsellerhölle zu Dir zurück auf die Erde, lieber Klaus, denn wenn einer originell ist und darüber hinaus sogar "doppelbegabt", wie man das im Kunstjargon nennt, dann Du! Ich kenne niemanden in der Lyrikszene, der "eigentlich" bildender Künstler ist und "nebenbei" Kurzgedichte verfasst, die dann ALS Gemälde veröffentlicht werden. Das ist eine unglaubliche Ausnahmeerscheinung und so wundervoll, daß mein Herz einfach nur überschäumt, wenn ich an Deine Bilder denke. Und damit komme ich zu meiner ersten Frage: wann und wieso bist Du überhaupt auf die Idee gekommen, Poesie auf die Leinwand zu bringen? Und wie hast Du den ästhetischen Stil entwickelt, um die Texte so zu präsentieren, dass sie als Gemälde funktionieren?

 

1. Nahbellantwort

 

Danke für Deine netten Worte. Es begab sich so, dass ich nach meinem Besuch der Kunstakademie von der Malerei abgerückt bin und angefangen habe, situations- und raumbezogene Installationen oder Performances zu veranstalten. Mit ein paar Künstlerkolleg*innen haben wir eine Produzentengalerie gegründet. Sie hieß und heißt "plan d" und zur Eröffnung stellte ich auf einen Sockel eine Schale mit Buttons, auf denen jeweils ein Adjektiv mit d geschrieben stand, z.B. dick, dreist, dekorativ, delikat, dünkelhaft, defloriert etc. Jede(r) hat sich den Button herausgenommen und angesteckt, der ihr/ihm gefiel. Es wurde ein lustiger Abend, bei dem man über dieses Vehikel miteinander ins Gespräch kam. Erst einige Zeit später habe ich die Idee aufgegriffen und Button-Serien entwickelt (Entschuldigungen, Buttons für Männer, Buttons für Reiche etc.), die ich in vielen Museumsshops in Deutschland und -übersetzt- auch darüber hinaus verkauft habe. Es entstanden Plakate und wenig später Texte, die etwas Gedichthaftes an sich hatten. Als Künstler möchte man ja berühren und ich erlebte so, dass man mit Worten jemanden genauso, vielleicht noch mehr packen kann als mit Bildern. Ich hatte immer die Idee, diese "Gedichte" auch in meinen Ausstellungen zu zeigen. Ich war mit der Zeit zur Malerei zurückgekehrt. Nach vielen Versuchen bin ich bei meiner heutigen Präsentationsform gelandet: Der Text wird weiß auf einem farbigen Grund auf eine Acrylglasplatte gedruckt. Die formalen Mittel sind reduziert: Format, Typographie, Umbruch des Textes, Farbe des Hintergrundes. Die durchsichtige Acrylplatte behält auch nach dem Druck eine gewisse Transparenz und schwebt quasi vor der Wand. Es soll leicht aussehen, präsent, aber unaufdringlich.

 

 

2. Nahbellfrage

 

War Dir denn bewusst, daß man das Lyrik nennen kann? Hattest (oder hast Du heutzutage) Berührungspunkte zu der sogenannten "Lyrikszene" oder zu einzelnen Dichtern, um Feedback von anderen Profis zu erhalten? Hast Du jemals Texte in Literaturzeitschriften publiziert? Haben Fans Deiner Kunst die Texte als Gedichtform erkannt? Ich bin erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit (und Leichtigkeit!) Du am Wort arbeitest, während es eine ganze zwangsneurotische Szene gibt, die verzweifelt versucht, "gute" Lyrik zu fabrizieren und dabei den Wald vor lauter Bäumen (weder links noch rechts) mehr sieht...

 

2. Nahbellantwort

 

Enzensberger bemerkte ja mal, Lyrik würde man daran erkennen, dass auf einer Seite relativ wenig steht. Also eher eine visuelle denn eine literarische Definition. Ich habe tatsächlich keinerlei Verbindungen zu einer Schriftsteller- oder gar Lyriker-Szene und veröffentlicht habe ich auch noch nie etwas. Ich wüsste einfach nicht, wen ich da ansprechen soll. Offensichtlich empfinde ich meine Arbeit "am Wort" als bildnerisch und nicht literarisch. Ich gehe vor wie bei einer Collage: Zunächst sammle ich Material, breite es vor mir aus, suche Passendes, kombiniere, verwerfe und sammle erneut. Es wird zusammengefügt, ersetzt, gefeilt, herumgeschoben und entfernt. Ich möchte, dass der Text ganz natürlich fließt und die Wortsäule, die entsteht, schön aussieht. Die so entstandenen Texte nenne ich "Wortarbeiten" und nicht "Gedichte".

 

 

3. Nahbellfrage

 

Daß Du nicht wüsstest, wen Du in bezug auf Lyrik ansprechen kannst, hat sich ja nun glücklicherweise erledigt und ich wünsche Dir, daß der Nahbellpreis vielleicht ein paar fruchtbare neue Kontakte zu literarischen Kollegen und Publikationsorganen bringt. Als ich 1990 in Köln im Alter von 22 Jahren nicht wusste, wo man sich in der Kulturlandschaft mit Lyrik "melden" könnte (das war also noch, bevor ich mir mit Anti-Wasserglas-Lesungen einen gewissen Namen machte), nahm ich allen Mut zusammen und ging mit meinem selbstproduzierten Kunstkatalog "DAS LETZTE BUCH" mit bildnerischen und lyrischen Frühwerken zum Dumont-Verlag und fragte eine Lektorin, die mich freundlich empfing, ob der Verlag an sowas Interesse haben könnte. Aber sie entschuldigte sich mit den Worten, daß Dumont "KEINE BELLETRISTIK" (wortwörtlich!) verlege. Ausgerechnet Dumont brachte über ein Jahrzehnt später dann die Anthologie "Lyrik von jetzt" heraus, durch die das noch andauernde Dunkle Zeitalter der deutschen Poesie über uns hereinbrach, aber das ist eine andere Geschichte. Witzigerweise wollte es der Zufall, daß die Welturaufführung meiner Quantenlyrik im März 2001 dank Goethe-Institut bei einem gewissen Professor Ulrich Johannes Beil in dessen Deutschseminar an der Universität von São Paulo stattfand. Dieser ominöse Prof. Beil stellte sich für mich nachträglich als Lyriker heraus, dessen Gedichtband kurz zuvor bei Dumont erschienen war. Also ich hatte wohl 10 Jahre zu früh bei diesem Verlag als Nobody angeklopft, während ich mittlerweile zur Gegenfraktion gehöre und Dumont genauso wie Suhrkamp, Rowohlt, KiWi und einige andere Großverlage konsequent boykottiere, aber die Gründe dafür reichen viel weiter als hier erklärbar ist. Was ich mit meiner Anekdote nur bestätigen wollte, ist daß ich das Gefühl nachvollziehen kann, nicht zu wissen, wo man mit Lyrik hin soll. Außerdem gibt es mittlerweile so viele (verklüngelte oder verfeindete) Mikroszenen innerhalb der sogenannten Lyrikszene, daß man eh Pech haben kann bei Bewerbungen/Einreichungen oder eben stilistisch genau ins Schwarze trifft, was die lyriktheoretische Richtung der Herausgeber und Kuratoren angeht. Deine Wortarbeiten haben anscheinend ein Alleinstellungsmerkmal, indem sie als Gemälde funktionieren. Es gibt und gab zwar immer schon Lyriker, die ihre Gedichte als Bilder, Collagen und Fotomontagen präsentieren, was sich heutzutage besonders auf Instagram einiger Beliebtheit erfreut, weil man dort am ehesten durch dekorative Eye-Catching-Methoden (anstatt durch tiefergehenden Content) Follower aquiriert, aber über das Deko-Niveau von Gefühlskitsch kommen da Influencer mit ihren Hobbyreimen selten hinaus. Deine Arbeiten wirken ja auch sehr dekorativ, sie strahlen einen unwiderstehlichen hochästhetischen Charme aus: Die Kompositionen sind in ihrer gleichbleibenden, ja geradezu seriell wirkenden sauberen Machart sehr elegant. Und doch sind es keine billigen Sprüche fürs Poesiealbum, sondern nachdenkliche, vielschichtige Anspielungen und überraschend angedeutete Gefühle, die einen blitzartig treffen und gesellschaftskritisches Kopfkino erzeugen. Du schaffst es, eine komplexe Geschichte mitsamt zahlreicher Nebenstränge in wenigen Worten so anzudeuten, daß sich die ganze Welt dadurch vor dem geistigen Auge aufrollt und man nicht weiß, ob man weinen oder lachen soll. Es haut einen echt um, man rechnet damit gar nicht, wenn man die kleinen Werke so harmlos an der Wand hängen sieht. Sie wirken zunächst einfach nur schön, nett anzuschauen. Aber wenn man dann zu lesen beginnt, wird man völlig unerwartet mit einem Thema konfrontiert, das den Geist wachrüttelt und die dekorative Präsentation als magnetischen Trick erkennbar werden lässt, um den Betrachter ins Bild zu locken. Das empfinde ich als erstaunlich, weil es ähnlich wirkt wie bei bildnerischen Kunstwerken. Deine Gedichte funktionieren tatsächlich wie Gemälde! Das wird mir quasi jetzt beim laut Denken erst richtig bewusst: das ist ein echtes Kriterium für Deine Qualität! Was sagt denn die Kunstszene zu Deinen Wortarbeiten? Wirst Du in irgendeiner Tradition angesiedelt? Giltst Du als Pop-Art? Oder rümpfen Maler die Nase nach dem Motto "das ist doch kein Bild", sondern nur Text, nett präsentiert! Worin liegt der Unterschied zu der Vorgehensweise einer Werbeagentur? Bist Du womöglich viel zeitgemäßer, als man es sich wünschen könnte, weil Kunst nicht leicht konsumierbar sein soll? Ich meine, mal ehrlich: mit Deinen Wortarbeiten ließe sich eine komplette Straßenbahn bekleben oder großformatig Häuserwände! Das sähe schick aus! Aber nur "schick" wäre bestimmt nicht in Deinem Sinne! Es gibt z.B. den "postpoetry"-Preis, der die Gewinnergedichte auf Postkarten druckt. Auch dafür wären Deine Werke perfekt! Oder als Bierdeckel, auch das gab es bereits! Du sagst ja, Deine Buttons mit Sprüchen waren international erfolgreich. Warum nicht auch die Wortarbeiten? Vielleicht sogar übersetzt? Also da ist noch viel Luft nach oben, würde ich sagen, was die Vermarktung betrifft. Oder dreht sich Dir bei dem Gedanken der Magen um? Wie leicht lässt sich ein schockierendes Kurzgedicht in ein Massenprodukt der Popindustrie verwandeln, dessen Inhalt durch die ikonografische Corporate Identity total entschärft wird, weil nur noch das Dekogefühl bleibt, während der Text gar nicht mehr wahrgenommen wird? Ein echter Sievers als Ikea-Kopfkissenbezug? Aber was macht das mit den Träumen? Jetzt wird es gruselig :-)

 

3. Nahbellantwort

 

Da hast Du aber eine ganze Menge Themen angesprochen! Ich versuche mal der Reihe nach durchzugehen:


1. Der "Look" meiner Arbeiten: Du hast ja schön beschrieben, wie meine Wortarbeiten der Betrachter*in erscheinen. Ich gebe mir tatsächlich viel Mühe, einen seriellen Charakter zu entwickeln, das hat mich viele Versuche und noch mehr Zeit gekostet. Jede Arbeit ist unabhängig, soll aber eingebettet in die Serie funktionieren. Das ist wichtig, um als bildnerisches Werk zu funktionieren, was dann wiederum zur Anerkennung der "Fachwelt" führt bzw. führen könnte. Eine Künstlerkollegin sagte mal zu mir: "Du schaffst mit deinen Wortbildern eine neutrale, bisweilen harmlose Oberfläche, doch wenn man den Text liest, merkt man, wie da die Emotionen brodeln."


2. Texte und Gemälde: Was ich aus meinen Bildern für die Wortarbeiten gelernt habe: Das Wichtigste ist es, den Kern, das Thema herauszuarbeiten und alles andere wegzulassen. Jedes gute Bild hat nur ein Thema, eine Aussage, eine Pointe meinetwegen, nicht zwei oder drei. Bei einem kurzen Text wie einem Gedicht ist es genau dasselbe, es gilt alles wegzustreichen was nicht dazugehört. Das ist bisweilen brutal, muss aber sein. Ich feile in der Endphase tagelang an einzelnen Wörtern, bis alles sitzt. Manchmal wird mir klar, das etwas mit der Grundidee nicht stimmt, dann fange ich nochmal von vorne an.


3. Reaktionen aus der Kunstszene: Ich habe schon das Gefühl, mit meinen Texten wahrgenommen zu werden, auch wenn es da keinen "Durchbruch" gibt, wie immer der aussehen könnte. Und ich bekomme viel Zuspruch und Unterstützung von Freunden und Akteuren der Szene, die das, was ich mache, sehr mögen und schätzen.


4. Gäbe es eine weitreichendere kommerzielle Nutzung? Ich bin skeptisch. Meine Buttons und Kühlschrankmagnete funktionieren gut, weil es das Produkt schon gibt und sie eine interessante Variante sind. Aber auch nur, weil der Preis stimmt und es keinen "Kunstzuschlag" gibt. Auch meine Worttafeln kann ich in einem Preiskorridor zwischen €150 und €300 herum verkaufen, als Multiple. Da bringen Gemälde als Original ungleich mehr bei deutlich niedrigeren Herstellungskosten. Öl auf Leinwand wird halt generell als wertvoll eingestuft. Um es klar zu sagen: ich glaube nicht, dass meine Texte populär genug sind, um für eine Massenproduktion zu taugen. Sie sind eher was für die Nische.

 

4. Nahbellfrage

 

Was sind Deine aktuellen Pläne? Arbeitest Du auf eine Ausstellung hin? Steht eine Lesung an? Du erwähntest im privaten Gespräch, dass Du einer Autorengruppe angehörst, was ich umso erstaunlicher finde, als dass Du ja sagtest, Du hättest keinen Kontakt zur sogenannten Lyrikszene. Aber meiner Meinung nach gibt es eine solche Szene ebenso wenig als abstrakte Struktur wie es auch nicht "den" Staat "an sich" gibt, sondern nur eine große Anzahl konkreter Menschen, die zusammen den konkreten alltäglichen Staat bilden. Insofern bist Du durchaus ein aktiver Teil dieses Szenebegriffs, ohne es zu wissen und ohne dass andere Mikroszenen des Lyrikbetriebs von Eurer Existenz wissen. Ich denke, es ist eine Frage der Öffentlichkeitsarbeit wie bei den Literaturpreisen: sobald die Presse einen Event oder Preisträger erwähnt, wird die dahinterstehende Organisation als Bestandteil des Literaturbetriebs wahrgenommen. Wer von den klassischen Medien und in Socialmedia-Zeiten auch von Kollegen totgeschwiegen wird (anstatt repostet und retweetet zu werden) oder selber kein Interesse an öffentlichkeitswirksamer Werbung hat, der kann genau genommen sein ganzes Leben unentdeckt bleiben, obwohl er womöglich des Öfteren in Erscheinung tritt. Wenn zu Ausstellungen Deiner Wortarbeiten zum Beispiel nur Publikum aus der sogenannten Kunstszene zur Vernissage erscheint, spricht sich die Ausstellung auch nur als Kunstevent herum, obwohl dort Lyrik zu sehen ist. Das ist ein seltsames soziologisches Phänomen, das mir bereits in den 90ern in Köln auffiel, wo ich sowohl als Performance-Künstler in der freien Kunstszene auftrat als auch Lyriklesungen in Cafés und diversen unkonventionellen Orten machte, wie z.B. auf einer Technoparty in einem Club. Das Interessante war, dass sich das Publikum fast komplett voneinander unterschied und mich die einen nur als Performer, die anderen nur als Lyriker kannten. Die allerwenigsten Zuhörer bzw. Zuschauer waren in mehreren Szenen zuhause, was mich dazu motivierte, die jeweils andere Disziplin in eine Szene einzubringen, was dann für die Leute überraschend war: ich machte eine Ausstellung mit meinen Bildern, aber las auf der Vernissage meine Gedichte, die ich sogar großformatig zwischen die Bilder an die Wand hängte. Ich hatte dadurch die Möglichkeit, Leute aus beiden Szenen einzuladen, wodurch Lyrikfreunde Kunst anschauten und Kunstfreunde Lyrik hörten. So würde ich es mir bei einer Ausstellung von Dir auch wünschen: dass man Dich als Doppelbegabten interdisziplinär wahrnimmt und beide Ebenen, die bildnerische und die lyrische, gleichermaßen wahrnimmt und würdigt. Welche Erfahrungen machst Du da mit dem Publikum bisher und was könnte sich in der Wahrnehmung Deiner Wortarbeiten verändern, wenn Du sie auch ganz selbstverständlich als Lyrik bezeichnen würdest? Oder hast Du mit dem Begriff "Lyrik" ein Problem? Jetzt habe ich Dir schon wieder sehr viele Fragen auf einmal gestellt, aber Du als ein echtes Ausnahme-Phänomen bringst mich halt auf so viele Gedanken, die ja alle irgendwie ineinander verzahnt sind...

 

4. Nahbellantwort

 

Ich muss feststellen, dass ich mich selbst immer als einen Künstler gesehen habe, der noch dabei ist sich zu entwickeln. Tatsächlich habe ich erst in den letzten Jahren das Gefühl, Dinge zu tun bzw. herzustellen, die ich als "rund" empfinde, die zueinander passen und sich aufeinander beziehen. Im Spätherbst 2022 hatte ich eine Einzelausstellung im Galerie- und Kulturzentrum QQTec in Hilden. Dort habe ich sowohl Texte als auch Bilder gezeigt, und ich hatte gar nicht mehr den Eindruck, dass dies für die Besucher*innen irgendein Problem wäre. Zumindest wurde ich diesmal nicht mehr nach einer Begründung gefragt. Meine Deutung: Die Ausdrucks- und Erscheinungsweisen haben sich so entwickelt, dass sie jetzt viel mehr als selbstverständlich daherkommen. Wenn etwas formal überzeugt, seriell zueinander passt und vielfältig wirkt, gibt es wenig Fragen nach der Berechtigung. Ich fände es auch unzeitgemäß, Künstler*innen auf eine Ausdrucksweise zu beschränken. Günter Grass behauptete ja, durch seine Mehrgleisigkeit (Zeichner, Graphiker, Autor) Krisen in den jeweiligen Sparten durch rechtzeitiges Springen zur nächsten zu vermeiden. Gute Idee, wenn's klappt. Tatsächlich gibt es aber auch viele Betrachter, die entweder meine Bilder oder meine Texte schätzen und auch zugegeben, mit dem jeweils anderen Genre "wenig anfangen zu können". Nicht schlimm. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, mit den Schultern zucken zu dürfen, ohne den Künstler ganz zu verprellen. Eine Bildende-Kunst-Szene ergibt sich ja erstmal natürlicherweise dadurch, dass die Protagonist*innen in der großen Mehrzahl an einer Kunstakademie studiert haben, sich von dort kennen oder sich so einordnen können. Ein gemeinsames Schicksal, das verbindet. Da fehlt mir zu Textarbeiter*innen einfach eine Brücke. Und das die Szenen oft getrennt voneinander agieren, wie du schreibst, finde ich interessant. Wenn es da ein neues Publikum gibt, bin ich bereit. Aktuell male ich viel, da ich einige Ausstellungen und Messebeteiligungen in diesem Jahr plane, zum Glück erst ab dem Frühsommer. Jetzt muss für frisches Material gesorgt werden. Wer meine Arbeiten schon kennt, soll den Eindruck gewinnen, dass sich weiterhin "etwas tut". Wiedererkennbar, aber doch mit neuen Aspekten. So sieht die Jobbeschreibung für einen Künstler aus. Mit dem Begriff "Lyrik" ist es wie mit "Kunst". Kann man das für sich wie selbstverständlich in Anspruch nehmen oder wird es einem nicht von anderen verliehen? Auf meinem neuen Buch steht als Klassifizierung "Lyrische Texte". Das erschien mir neutral genug und irgendwie unzweifelhaft.

 

5. Nahbellfrage

 

Deine Antworten stimmen mich nachdenklich, sie enthalten viel Zündstoff zur Diskussion und sogar für die soziologische Forschung. Bevor mir eine sinnvolle fünfte Fragestellung gelingt, muss ich darum auf ein paar Punkte eingehen, um dadurch hoffentlich eine Frage zu generieren. Also: mit Deiner Erläuterung, daß sich die Bildende-Kunst-Szene hauptsächlich aus der ehemaligen Studentenschaft der Kunstakademie entwickelt, löst Du für mich ein großes Rätsel, warum es für einen nichtstudierten freischaffenden Künstler wie mich fast unmöglich war, von einer Galerie präsentiert zu werden, als ich das in jungen Jahren anstrebte. Wenn in der Vita nicht steht, daß man ein Meisterschüler eines berühmten Professors war, wird man nicht automatisch ernst genommen und zählt dann stattdessen zur subkulturellen Freien Szene, die sich zwar selbst organisiert, aber nur selten von der Öffentlichkeit als kunsttheoretisch/-historisch relevant wahrgenommen wird. In der Lyrikszene passiert quasi dasselbe: in Publikationen bei etablierten Großverlagen wird gerne betont, an welchem Literaturinstitut der Autor sein Handwerk gelernt hat und welche Literaturpreise bereits erhalten wurden. Die Qualität der Poesie wird zu Lebzeiten am institutionalisierten Prestige festgemacht, nicht an den Gedichten, dem Stil oder den Inhalten. Natürlich bestätigen Ausnahmen die Regel, aber traditionell wird ein Autor, der "nur" in kleinen, unbekannten Zeitschriften publiziert und der "nur" von der Presse ignorierte Kneipenlesungen macht, eher als Vertreter von sogenannter Undergroundliteratur abgestempelt und erst posthum rehabilitiert. Manchmal frage ich mich, wann wohl der erste Fernseh-Poetryslamer, der durch einen Medienhype zum Bestseller avancierte, den Literaturnobelpreis erhält und den Leuten dadurch suggeriert wird, daß Slampoetry mit Comedyliteratur gleichzusetzen sei, weil das mediale Entertainment im ökonomisch spekulierenden Kulturbetrieb mehr zählt als die unangepasste eigenweltlerische Auseinandersetzung mit dem Leben und der Gesellschaft. Kein Germanist, Literaturwissenschaftler und Verleger kann definieren, was letztlich ein echtes, richtiges, gutes Gedicht ausmacht, wann und warum es "funktioniert". Darum orientiert man sich vorsichtshalber am messbaren Geschmack der Leser, Zuhörer und Käufer und behauptet dann einfach, einen bedeutsamen Dichter zu präsentieren. Marketing erzeugt Mainstream und Mainstream ermöglicht Marketing. Zu den Zeiten, als ich noch selber sehr viele Lesungen machte, sagte ich mir immer, wer weiß, welcher noch unbekannte jüngere Kollege jetzt gerade vor mir im Publikum sitzt, der erst nach meinem Tod so berühmt wird, daß man zu spät (aus dem Jenseits) darüber nachdenkt, wie schade es ist, diesen Autor zu Lebzeiten verpasst zu haben, weil man seine spätere Bedeutung nicht ahnte. Dank dieser Haltung ermögliche ich mir die Offenheit gegenüber Kollegen, die (noch) niemand kennt oder die von den Medien (noch) ignoriert werden. Dagegen bist Du ein ganz anderes Phänomen: Du bist zwar Absolvent der Akademie, aber hattest während des Studiums eine sehr kritische/skeptische Haltung über ihre Möglichkeiten und Grenzen für Deine eigene Entwicklung, wie ich dem YouTube-Podcast mit Michael Krisch entnehme. In der Kunstszene bist Du soweit verwurzelt/verankert, daß Dir auch dieses Jahr wieder zahlreiche Ausstellungen und Messebeteiligungen möglich sind, und Du hast sogar ein Buch am Start, das Deine Wortarbeiten erstmals als "lyrische" Texte bezeichnet und damit als Literatur erhältlich macht. Das ist fantastisch, ich freue mich sehr darauf! Der Begriff "lyrisch" ist irgendwie etwas belegt mit diversen Konnotationen, das müsste ich nochmal den Michael Gratz von der Lyrikzeitung fragen, wofür "lyrisch" steht. Ich persönlich verbinde damit eigentlich so ziemlich das Gegenteil von dem, was und wie Du schreibst, aber bin nun leicht verunsichert, ob ich da falsch liege. Wenn ein Text lyrisch genannt wird, denke ich an aalglatte wohlgefällige Reime und eine "elegische" Atmosphäre, was sich schon widerspricht, da Elegien (z.B. die Duineser von Rilke) gerade ohne Reimschema funktionieren. Also, Du siehst, ich bin da gerade etwas verwirrt über mich selbst :-) Aber Du hättest Deine Wortarbeiten durchaus auch ganz dreist und direkt als GEGENWARTSLYRIK oder ZEITGENÖSSISCHE POESIE betiteln können. Das hätte, wie gesagt, niemand ohne Amtsanmaßung widerlegen können, weshalb es letztlich genau so "neutral" und "unzweifelhaft" wäre. Wann und wo erscheint denn das Buch und wie wird es unters Volk gebracht? Erscheint es in einem Verlag oder durch Selfpublishing? Präsentierst Du es auf einer Ausstellung? Machst Du womöglich sogar selber eine Lesung zu einer Vernissage? Bitte konkretisiere Deine Pläne und Planungen für das laufende Jahr einmal. Oder anders gesagt (mit einem Schmunzeln): es folgt jetzt der Werbeblock! 

 

5. Nahbellantwort

 

Das Buch heißt "worauf warten", es enthält 40 lyrische Texte aus den letzten Jahren und Illustrationen von Carmen Schmidt. Ich bringe es als Künstler-Edition in einer 100er Auflage heraus, jedes Exemplar ist nummeriert und signiert. Und gedruckt in der tollen Düsseldorfer Druckerei Tiamat, meinen Dank an Piet Wiedenhöfer, der alles mit großem Sachverstand und Geduld unterstützt hat. Ich möchte das Buch auf meinen Ausstellungen in diesem und im nächsten Jahr verkaufen, vielleicht geht auch was über Instagram. Zuerst präsentiert wird es auf einer Einzelausstellung im Düsseldorfer Kunstverein KUH, die Ende Juni eröffnet wird. Dort wird auch eine Lesung mit meiner Literaturgruppe "zack und zack und dann nochmal" stattfinden, es ist unser zweiter Auftritt. Ansonsten gibt es noch die offenen Ateliers, genannt Kunstpunkte, Ende August und im Herbst die Kubo-Show in Herne, eine tolle Kunstmesse, an der ich seit über 20 Jahren teilnehme. Zur Frage, was Lyrik sei: Ich denke, zunächst ist es erstmal die minimalste und sparsamste Form der Literatur. Alles wird in wenigen Worten gesagt, so wenig wie möglich. Man geizt, hadert, streicht weg. Alles Überflüssige ist eine Qual. Und dann muss der Rhythmus stimmen. Ich spreche mir meine gefundenen Worte und Sätze vor und höre, ob eins zum anderen führt. Um Stolperer muss ich mich kümmern. Ein ähnliches Prinzip gilt für das Gelingen eines Bildes. Wurde die Kernidee herausgearbeitet, ist alles ökonomisch umgesetzt? Jedes Bild verträgt nur eine Idee, so wie ein Witz nur eine Pointe hat.

 

6. Nahbellfrage

 

Also, daß Dein Lyrikkunstbuch als sogenannte "Künstler-Edition" in limitierter, signierter Auflage erscheint, ist natürlich etwas besonderes! Das passt perfekt zu Deiner Arbeitsweise, Lyrik als Originalgemälde zu präsentieren: der Charme des Einmaligen spiegelt sich in einer limitierten Edition, dem ideellen Wert Deiner Gedichte wird dadurch auch in Buchform gut entsprochen. Kennst Du eigentlich die MMPM, die Mainzer Minipressenmesse? Sie wurde als Alternative zur Frankfurter Buchmesse gegründet und richtet sich an genau solche Druckerzeugnisse wie Deins bei Tiamat: bibliophile Kleinstverlage für Künstlerbücher und limitierte Sonderausgaben. Ich habe dort selber mit meinem G&GN-Label in den 90ern mitgemacht und dadurch viele interessante Kollegen wie z.B. den Nahbeller Dr. Treznok kennengelernt. Diese ganze Verlegerszene für Künstler-Editionen ist ja trotz ihrer immensen Größe immer ein Geheimtipp für Bücherfans geblieben, da solche Werke nicht in Buchhandlungen rumliegen, wo es um Massenabsatz von Bestsellern geht. In Berlin hatte eine ehemalige Hugendubel-Filiale am Ku'damm vor 20 Jahren versucht, ein Regal mit "Undergroundliteratur" zu etablieren, aber weil zu wenig gekauft wurde, beschloss Nina Hugendubel bereits keine zwei Jahre später, all die limitierten (zum Teil handkolorierten!) Spezial-Editionen von hohem künstlerischen und historischen Wert (die mir Kollegen aus dem gesamten Bundesgebiet schickten, um das Regal zu befüllen) zunächst auf den Restposten-Grabbeltischen zu verscherbeln und die dann einige Monate später noch immer übrig gebliebenen Restexemplare zu schreddern, ja SCHREDDERN, Du hast ganz richtig gelesen, darunter auch CD's und Cassetten, also nicht nur Papier, sondern auch Plastik! Stell Dir den Lärm der Vernichtung von Kunst bloß mal vor! So funktioniert eben der Verkauf von Büchern nicht erst heute: was nicht läuft, muss raus! Von daher ist die Strategie, Dein Buch auf der Ausstellung zu präsentieren, wahrscheinlich der einzig mögliche analoge Weg, um die richtige Zielgruppe darauf aufmerksam zu machen. Trotzdem bedaure ich sehr, daß eine ortsansässige Buchhandelskette wie die Mayersche (jetzt Thalia) kein Regal für Düsseldorfer Selbstverleger anbietet, denn unsere selbsternannte "Literaturstadt" hat weit mehr Poesieprojekte zu bieten, als der etablierte Literaturklüngel verschleiert (ob gewollt, sei dahin gestellt). Aber vielleicht findet sich ja ein Tiamat-Stand auf dem Bücherbummel an der Kö oder bei der Büchermeile auf der Rheinuferpromenade? Sag mal, ich hab' da noch 'ne ganz andere Frage, nämlich eine biografische, die ich den Nahbellern immer gerne stelle: wie haben Deine Eltern darauf reagiert, als Ihr Sohn an die brotlose Kunst verloren ging? Gab oder gibt es Verständnis für Deine künstlerische Lebensweise in der Verwandtschaft? Interessieren sich Deine Eltern oder andere Verwandte für Deinen Werkprozess? Haben sie Dich in harten Zeiten finanziell unterstützt? Oder wollte man Dir die Flausen im Kopf austreiben?

 

6. Nahbellantwort

 

Ich denke, meine Eltern waren am Anfang insgesamt nicht begeistert, haben es aber laufengelassen. Tatsächlich bin ich so mit 15 zusammen mit meiner Mutter in die ersten Malkurse der VHS gegangen zu einem charismatischen Künstler namens Klaus Osterwald. Ein toller Typ, mit Vollglatze, sah aus wie ein Künstler. Noch wichtiger war aber mein Kunstlehrer am Gymnasium, Christian Heinrich, leider kürzlich verstorben. Er hatte einen coolen, unbestechlichen Blick, unaufgeregt, sachkundig, eine Haltung, die ich an der Akademie oft vermisst habe. Meine Mutter hat auch immer weiter gemalt und gebildhauert, hatte ein paar Ausstellungen. Sie arbeitet ganz anders als ich, viel wilder, expressiver, auch abstrakter. Meine Frau Carmen unterstützt mich sehr, wir besprechen auch kleinteilige Probleme aus dem Atelieralltag. Sie hat mein Buch wunderbar illustriert. Aus dem direkten Umfeld - Partnerin, Freund:innen - ist die Unterstützung sehr wichtig, weil es für viele Entscheidungen kein wirkliches Vorbild gibt. Man kreiert ja seine eigene Welt mit ihren Regeln, da ist es immer wichtig, jemanden zu haben, der mitdenkt und Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden kann.

 

7. Nahbellfrage

 

Gilt das alles nur für die Kunst oder auch für die Lyrik? Hast Du da Vorbilder oder gibt es für die Wortarbeiten bzw. nur für den reinen Text auch nahestende Menschen, die Dir Feedback geben und womöglich zu nachträglichen Änderungen einzelner Wörter oder Zeilen beitragen, wenn Du selber eigentlich schon glaubst, fertig zu sein? Davon abgesehen frage ich mich sowieso: wie kommst Du überhaupt zu Deinen Themen in den Texten? Jeder einzelne überrascht mich, sie sind so extrem unterschiedlich und hinterlassen immer eine große Verwunderung. Man weiß nicht, womit man bei Dir rechnen muss! Und dann noch die Farbgebung als Textgemälde: wie wählst Du eine Farbe als "passend" aus? Oder beziehen sich Text und Farbe gar nicht aufeinander, womöglich absichtlich möglichst wenig?

 

7. Nahbellantwort

 

Manchmal glaube ich fertig zu sein und lasse den Text ruhen. Gut ist, wenn man ihn schon halb vergessen hat und dann wieder anschaut, dann spürt man schnell, ob er wirkt. Ich habe manche Texte nach Jahren umgeschrieben und war erst dann zufrieden. Auch ein Feedback kann helfen, letztlich muss aber das eigene Urteilsvermögen ran. Es freut mich, wenn die Sammlung überrascht. Ich gehe immer von aktuellen Erlebnissen oder Ereignissen aus, da kommt Unterschiedliches zusammen. Auch achte ich darauf, dass die Stimmungen und Sprachmuster variieren. Die Farben für die Wandarbeiten wähle ich intuitiv. Typo, Format, Farbe werden gemeinsam so lange verändert, bis es passt. Und wenn die Arbeit dann aus der Druckwerkstatt kommt, sind mitunter weitere Anpassungen notwendig. Ob sich die Farbe auf den Text bezieht oder die gegenteilige Assoziation hervorruft? Alles ist möglich, es darf nur nicht langweilen.

 

8. Nahbellfrage

 

Lieber Klaus, ich danke Dir sehr für Deine ehrlichen und persönlichen Antworten, die für den interessierten Leser eine große Bereicherung darstellen, da man im Grunde nur auf diese Weise etwas über die Hintergründe und Entstehungsbedingungen von Lyrik erfahren kann. Das ehrfürchtige Publikum bei Veranstaltungen würde sich kaum trauen, derart privat anmutende Fragen zu stellen, auf die Du mit großer Offenheit eingegangen bist. Ich gratuliere Dir nochmal recht herzlich zum 24. Nahbellhauptpreis 2023 und möchte Dir mit einer letzten Frage das Schlusswort überlassen: Sollte Lyrik immer nur ruhig, gediegen, elegisch, klassisch konventionell vorgetragen werden, um nicht "kaputtgebrüllt" oder "totrezitiert" zu werden (ein Vorwurf, der mir selber manchmal wegen meinem "überexpressiven" Tonfall gemacht wird)? Oder würdest Du manche Deiner Wortarbeiten sogar schauspielerisch zelebrieren (lassen)? Wie bist Du zu Deiner Meinung über verschiedene Vortragsweisen und Deiner eigenen gekommen?

 

8. Nahbellantwort

 

Am liebsten würde ich den Vortrag meiner Texte einem Profi überlassen. Ein Schauspieler hat gelernt, wie er Spannungen erzeugt, ohne unnatürlich zu wirken, wie er den ganzen Text tragen kann. Ich merke beim Sprechen, dass mir zwischendurch die Puste ausgeht, dass mitunter eine Betonung verrutscht etc. Ich empfinde es - in der Regel - am Angenehmsten, wenn der Text für sich stehen kann. Vielleicht sind meine Texte auch gar nicht wirklich zum Sprechen geeignet, sondern eher zum Lesen. Der Leser, die Leserin ist vielleicht vom Ende überrascht, will gleich nochmal zum Anfang, springt zwischen den Zeilen. Der Text gehört ihm/ihr, er braucht kein Medium, das ihn vermittelt. Zum Schluss möchte ich Dir für Dein Engagement und Deine Begeisterung danken, das bedeutet mir viel.