G&GN-INSTITUT Düsseldorf / Die beiden Hauptgewinnerinnen des 21.Nahbellpreises 2020 sind Sigune Schnabel (geb.1981) & Stefanie Schulte-Rolfes (geb.1961) für ihre LYRISCHEN GESAMTWERKE. Den 2.Förderpreis bekommt der Nachwuchsautor Oskar Kabel (geb.1994) für seinen Debutband "HOAXLYRIK" zugesprochen. Die 3 großen Interviews bestehen aus explosiven Anekdoten und poetologischen Provokationen sowohl der Gewinner als auch des Preisstifters - hier einige Best-of-Zitate daraus mitsamt je einem Coronagedicht als Beispiele für die poetischen Produktionen der Preisträger! Es geht um synästhetische, neurokybernetische und soziomeditative Lyrik... Pressetechnisch wird der Nahbellpreis wie jedes Jahr von LYRIKZEITUNG.com und FIXPOETRY.com unterstützt - wir freuen uns über weitere Institutionen der Lyrikszene, die eine Partnerschaft mit dem POESIEPREIS.de eingehen möchten!
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Aus der 1.NAHBELLANTWORT
Zu meinem Debütband führte eine Reihe von Zufällen. Eine Rolle spielte dabei ein Wettbewerb, bei dem ich den ersten Preis gewonnen hatte. Dass damals mehrere Auszeichnungen in einer Reihe
folgten, ist ein Phänomen des Literatur-betriebs, das ich noch nicht durchschaut habe. Ich selbst hatte anfangs das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. Durch die Preise fühlte ich mich immer
mehr akzeptiert und "angekommen", zwar fernab des Mainstreams, aber es war auch nie mein Ziel, meine Texte an Trends auszurichten.
Aus der 2. NAHBELLANTWORT
Thematisch interessieren mich in erster Linie das Gescheiterte im Leben, das Zerbrochene oder auch die feinen, kaum merklichen Veränderungen in einer Beziehung, die sich schleichend in die
Kommunikation mischen. Dieses Trennende, Vergebliche bette ich gerne in eine Landschaft, die einerseits Spiegel sein kann, andererseits Ausdruck einer Entfremdung. Das kindliche Einssein von Ich
und Welt geht im Lauf der Zeit verloren. Mein lyrisches Ich sucht immer wieder einen Ersatz dafür in menschlichen Beziehungen und scheitert dabei, denn sie unterliegen den gleichen Mechanismen
der Vergänglichkeit. Was bleibt, ist eine Leerstelle oder ein Schweigen. Im Mittelpunkt steht also die Frage: Was ist es, was diesen zerstörerischen Prozess in Gang bringt? Können wir ihn
rechtzeitig bemerken und verhindern? Bevor ich 2013 anfing, meinen heutigen Stil zu entwickeln, hatte ich eine längere Schaffenspause. Zuvor konzentrierte ich mich auf Prosa, vor allem
autobiografischer Art, häufig in der Form von Kolumnen. Allerdings driftete ich auch da oft in lyrische Passagen ab. Heute passt die Form des Gedichtes am besten zu meinem Alltag, da sie einen
Kontrast zur Hektik des Berufslebens bildet und sich gut eignet, um innezuhalten. Sie geht mit einer Haltung einher, die mich wieder näher mit dem Wesentlichen in Kontakt bringt.
Aus der 3.NAHBELLANTWORT
Das Wesentliche ist für mich, dass es nicht zu einer Entfremdung vom eigenen Leben kommt. Das ist in einer Welt, in der Beschleunigung und Funktionieren in der Regel den Alltag beherrschen,
manchmal eine Herausforderung. Und da hilft die Lyrik, weil sie nur beim Leser ankommt, wenn er innehält und entschleunigt. Man muss sich ihr ganz öffnen, für die Nuancen und Emotionen darin
zugänglich machen – und dabei die lineare Zeit und Leistungsorientierung vergessen. Wahrscheinlich ist sie auch deswegen heutzutage so wenig beliebt: weil viele Menschen nicht mehr dazu in der
Lage sind.
Aus der 4.NAHBELLANTWORT
Da Sprache aus eingeschränkten Mitteln besteht, kann es nicht gelingen, das Gemisch aus Klang, Farbe, Gefühl und Ahnung gänzlich einzufangen. Sprache basiert auf Gemeinsamkeiten, weil sie
konventionalisiert ist, und es bedarf großer Anstrengungen, Nuancen zum Ausdruck zu bringen, die ein Gegenüber nicht kennt und für die es noch keine festgelegten Ausdrücke, allenfalls
Umschreibungsmöglichkeiten gibt. Wäre unser Verständigungssystem komplexer, wüssten wir vielleicht auch mehr über die sogenannte Wirklichkeit. Aber Sprache ist nichts als ein Filter, genau wie
unsere Sinne. Kommunikation mit Worten kann nur eine grobe Richtung darstellen. Dahinter befindet sich aber noch eine ganze Welt. An diese Welt würde ich gerne näher herankommen.
Aus der 5.NAHBELLANTWORT
Das ein oder andere Corona-Gedicht habe ich, was vielleicht nicht allzu überraschend ist, in der virtuellen Schublade. Neben dystopischen Themen beschäftigten mich die Fragen: Wird in den
nächsten Monaten oder Jahren die Anzahl der Kinderpsychologen zunehmen, die möglicher-weise antrainierte Gefühle und Verhaltensweisen wieder "wegmachen"? Oder sollen Angst und Abscheu als
Schutzmechanismen in den neuen Normalzustand übertreten? Das obligatorische Corona-Gedicht will ich nicht vorenthalten:
Sigune Schnabel
Tatbestand
Am Eingang machen Blicke Abstriche
von der Schleimhaut,
hantieren mit Handschuhen
an meinem Aussehen.
Dort hinten brechen Wolken
das neue Gesetz,
gleiten straflos über die Grenze hinweg.
Ich warne den Vogel
in meinem Kopf.
Auch er fliegt unbefugt
in fremdes Land,
sodass die Menschen verrückt werden.
Polizisten patrouillieren
zwischen Herbstblättern.
Heute weht der Wind verkehrt,
stiftet zur Straftat an,
das Laub und den Staub der Straßen.
Zwischen den Häusern ist die Stille
über alle Maßen verstört.
Aus der 6.NAHBELLANTWORT
Bisher wurden Gedichte von mir ins Englische, Griechische, Rumänische, Ukrainische, Russische und Tschechische übersetzt. Ob in Zukunft auch Romane entstehen werden, lässt sich zum jetzigen
Zeitpunkt noch nicht sagen. Ich kann es jedenfalls nicht ausschließen. Ein angefangenes Prosamanuskript liegt bereits in meiner Schublade.
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Aus der 1.NAHBELLANTWORT
Ich wollte meine Welt so verwandeln, dass sie Poesie wird. Zwischenräume in einer lauten Welt schaffen, in denen ich träumen und ausruhen konnte. Ich habe immer stoisch an meinen Träumen festgehalten, bis heute.
Aus der 2.NAHBELLANTWORT
Bei FB hatte ich fast 8 Jahre einen Account und lernte Blogger und Literatinnen kennen. Vor zwei Jahren hat ein hiesiger Künstlerfreund meine uralten bis neuen Gedichte in kleine Broschüren gebunden. Die habe ich teilweise verschenkt, ohne besondere Resonanz. Ich habe, wie gesagt, nie versucht, mich bekannt zu machen als Dichterin, bis ich deine, für mich sehr ansprech-ende, NAHBELLPREIS Seite gefunden habe.
Aus der 4.NAHBELLANTWORT
Momentan schreite ich sprachlich eher durch Verwüstungen. Da treffe ich mich ganz neu an, mit dunklen, wütenden Kleidern. Stille ist aber ein Grundrauschen bei mir. Darüber zu schreiben ist gar
nicht so einfach und braucht sehr viel Konzentration und Kontemplation. Das kommt irgendwann wieder, wenn ich alt bin.
Aus der 5.NAHBELLANTWORT
Jeder, der nicht ganz besinnungslos ist, kennt innere Zerwürfnisse und bedrohliche, gespens-tische Zustände. Momentan zum Beispiel diese Virusgeschichte. Was macht das alles mit uns? In solchen
Lebenslagen lässt sich ja bekanntlich gut schreiben. Und natürlich habe ich manchen Text verfasst in den letzten Tagen und Wochen. Da weiß ich nicht, wohin das dichterisch noch führt bei mir.
Aus der 6.NAHBELLANTWORT
Poesie ist ja nicht etwas Ausgedachtes oder eine Mode. Wir müssen nicht ständig produktiv sein und alles nach außen stülpen. Alles hat seine Zeit, aber momentan müssen wir die POESIE bewahren mehr denn je, sie schützen vor Wörtern wie "Systemrelevanz" oder "Social Distancing", uns also in acht nehmen vor so einer Art Kriegsrhetorik wie "unsichtbarer Feind" und "Ausgangssperre" und so weiter. Hier ein Text, den ich gestern nach dem Einkaufen in einem leicht wütenden Tempo geschrieben habe.
Stefanie Schulte-Rolfes
Türen zu
Schuhe aus
Nicht ins Gesicht fassen
Hände waschen
Einkauf auspacken
Schlüssel ablegen
Merken wo
Butter vergessen
Schuhe an
Hände waschen
Schlüssel suchen
Mundschutz auf
Atem kontrollieren
Menschen meiden
Umeinander kreisen
Abstandsgedränge
Geschimpfe
Geduldsproben
Pass bloß auf du
Nur für Butter
Nicht rennen
Atmen
Schweiß abtupfen
Oder Tränen
Sich normal fühlen müssen
Mit Mundschutzmaske
Und beschlagener Brille
Nicht an die Lippen fassen
Warten vor dem
Kühlregal
Nur für Butter
1.5 m
Besser mit Karte zahlen
2,59
Hinter Schutzscheiben
Sitzt die Angst
Tür aufschließen
Schuhe aus
Mundschutzmaske ab
Hände waschen
Endlich Augen reiben
Gesicht abtasten
Den Spiegel küssen
Aus der 7.NAHBELLANTWORT
Die Aktivitäten bei FB usw. haben mich nach vielen, zu vielen, aktiven Jahren dort nicht mehr interessiert. Ich glaube, es war so die Erkenntnis, dass alles nur Ablenkung vom Wesentlichen ist.
Aus der 9.NAHBELLANTWORT
Wenn ich meine Sterbedaten wüsste, dann wird jeder Augenblick kostbar, egal ob jemand traurig oder fröhlich, faul oder fleißig, hübsch oder hässlich ist. Das spielt alles überhaupt keine Rolle. In meiner dritten Broschüre geht es um das Thema Tod, um "Ausnahmezustände" und um Auflösungsmomente sozusagen.
Immer mehr Leute möchten schreiben, aber irgendwer muss ja auch Zeit haben, alles zu lesen. Da ist sehr viel Oberflächlichkeit im literarischen Geschäft und auch die Geschwindigkeit, mit der wir andere lesen und beurteilen und zurück ins Regal stellen, ist erschreckend. Die größten alten und neuen Geister werden allzu oft missachtet.
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Aus der 1.NAHBELLANTWORT
lyrik. legitimiert sich. durch ihre eigene. existenz. als kunstform. im sinne. des menschlichen. ausdrucks. das hirn. arbeitet. und spuckt. daten. aus. nicht mehr. und nicht weniger. diese daten. müssen vom mensch. willentlich. interpretiert werden. die wenigsten. machen das. obwohl ich. behaupte: alle menschen. hören. ihr hirn. arbeiten. das zuhören. ist eben. das schwierige. das machen. die dichter. sie hören. sich selber. beim denken zu. denken. ist ein prozess. kein ergebnis. kein ziel. keine wahrheit. ein prozess! eine debatte. um irgendeine "rettende" funktion. von lyrik. ist mir nicht bekannt. ich selber. erachte die lyrik. primär. als vollkommen. frei. von funktionen. sie dient mir nur. als protokoll. des prozesses.
Aus der 2.NAHBELLANTWORT
die ganze perverse. weltsituation. wurde mir. nach veröffentlichung des bandes. unerträglich. ich brauche. ganz einfach. den abstand. in dieser oase. des geistes. um meine leere. mitte. zu stabilisieren. der prozess. des protokollierens. erwies sich. als zu groß. zu komplex. ausufernd. unkontrollierbar. ein denkgeschwür. das letztlich. zu körperlichen beschwerden. führte. weil der geist. selbstläufer wurde. und die welt. nicht aus den wörtern. eliminieren. konnte.
Aus der 3.NAHBELLANTWORT
als wären es. nicht. meine eigenen. erkenntnisse. sondern die. einer maschine. und ich. nur protokolleur. inzwischen. versöhne. ich mich. mit mir. und dem dichterischen impuls. in mir. mein coronagedicht. für pendemic.ie. war eigentlich. nur. eine pflichtkür. weil mich. die ganze. diskussion. der lyriker. auf facebook. unter druck setzte. ich werde. noch einige zeit. benötigen. um mich. dem ganzen. neurodigitalen. welthorizont. anders. aussetzen. zu können. als momentan. das gesunden. in dieser ruhe. ist wichtiger. als die lyrik. das internet. und die panik. der pandemie.
oskar kabel [25. april 20]
0023
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Aus der 4.NAHBELLANTWORT
ich schreibe den text. immer zuerst. in seiner lückenlosen form. und begutachte danach. die positionen der buchstaben. um brauchbare stellen. für die aufbrechung des statischen. zu eruieren. für das corona-motivierte gedicht. entschied ich mich aber. für die anfängliche reinform. aus praktischen gründen: es überfordert die herausgeber. anscheinend. vielleicht auch nur technisch. einen lücken-basierten text. korrekt zu präsentieren. die freiheit meiner poesie. endet insofern. bei den beschränkungen technischer systeme. symbolisch übertragen auf die konditionierte wahrnehmung. bedeutet das: eine gedichtsendung ist nur so frei. wie die beschränkte wahrnehmung. des empfänger-systems! das wesentliche am denken. geschieht für mich. beim innehalten in all diesen sprach-losigkeiten. zwischen den wörtern. meditation. ist der zustand. wenn diese geistfabrik innehält. stillstand. des ewigen gebrabbels. ein globaler lockdown. ermöglicht globale meditation. ein experimentelles gedicht. ist in diesem kontext. ein hoax. es sabotiert das system mit informationen. die in keiner akte gespeichert sind. und daher nicht abrufbar sind. es mogelt sich. sozusagen. zwischen den takt. in dem der geist tickt. und setzt die energie. der informationslosen lücken. frei!
Aus der 5.NAHBELLANTORT
in meiner jugend. sog ich alles auf. was von dadaisten. zu kaufen war. bis mir bewusst wurde. wie leicht der kanon zum kalauer übergeht. doch ich suchte. bis vor einigen jahren. die gedanken. und ismen der anderen. fast zwanghaft. weil mir eigene. worte fehlten. ich war euphorisiert. von fremderkenntnissen. ohne meine abhängigkeit zu bemerken. erst beim versuch. selber zu dichten. wurde auffällig. dass ich. unfähig war. meinem eigenen denken. zuzuhören. mein kopfspeicher. enthielt eine bibliothek. fremder gedanken. geistige viren. vernebelten. meine seele. ich begann. alle gesammelten wörter zu löschen. unbarmherzig. systematisch. anstelle der inflation. von fremden und eigenen. wörtern: weltleere. inmitten des soziokulturellen. spekta-kels. als anker & kern. konstruktiver optionen. zur anteilnahme. am fragmentierten. ganzen...
2019: Das G&GN-Institut nimmt Abschied vom 9.Nahbellpreisträger ~ NACHRUF auf Peter Rech 21.5.1943 - 5.12.2019
2020: Das G&GN-Institut bedauert das Ende des Portals FIXPOETRY ~ NACHRUF auf das Engagement von Julietta Fix
2022: Erstmals wird der Nahbell-NEBENPREIS "für den unerwarteten Essay" vergeben - Hintergrund zur EINFÜHRUNG siehe 2021
2023: Das G&GN-Institut kuratiert die Düsseldorfer Lesung "POESIEPANDEMIE: LYRIK LEBT WEITER!" -
LIVE & CLOSE am 12.
Mai
"Ich bin der reichste Mann der Welt! // Meine silbernen Yachten / schwimmen auf allen Meeren. // Goldne Villen glitzern durch meine Wälder in Japan, / in himmelhohen Alpenseeen spiegeln sich meine Schlösser, / auf tausend Inseln hängen meine purpurnen Gärten. // Ich beachte sie kaum. // An ihren aus Bronze gewundenen Schlangengittern / geh ich vorbei, / über meine Diamantgruben / lass ich die Lämmer grasen. // Die Sonne scheint, / ein Vogel singt, / ich bücke mich / und pflücke eine kleine Wiesenblume. // Und plötzlich weiss ich: ich bin der ärmste Bettler! // Ein Nichts ist meine ganze Herrlichkeit / vor diesem Thautropfen, / der in der Sonne funkelt." Arno Holz (1863-1929)
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