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20. NAHBELLPREIS 2019: MELAMAR

melamar, bürgerlich: Melanie Marschnig, geb. am 12.2.1976 in Klagenfurt/Celovec, aufgewachsen im Bezirk Wolfsberg, seit 1993 Wahlheimat Wien. Textproduktion: Lyrik, Prosa, Spoken Word; Auftrittstätigkeit: Lesungen, (soundgestützte) Literatur-Performance, Poetry Slams; Veranstaltungsorganisation und Moderation: Lesungen, Open Mics, Kulturveranstaltungen; Übersetzungen aus dem Rumänischen und Spanischen: Literatur-, Geistes- und Kulturwissenschaften; Schreibworkshops: Organisation und Leitung

 

BLOG: www.melamar.at - EINZELPUBLIKATIONEN:
"Poetisiaka", Lyrikband, edition farce vivendi, Wien, 2019.
"Bukuríe", Roman, Verlag Wortreich, Wien, 2019.
"10 Jahre FARCE VIVENDI", Anthologie, edition farce vivendi, Wien, 2018,

(Hg., gemeinsam mit Andi Pianka).
"Feribord 13", Lyrikheft, herausgegeben von Gerhard Jaschke, Wien, 2015.
"Yellowtown", Comicband von Krups Gruber, Viza Edit, Wien 2006 (Hg.).
"Fall in die Nacht", Roman, Viza Edit, Wien 2004.


ALS NEUZUGANG IM OFFLYRIKFESTIVAL-FORUM/POESIESALON.de: "TIMELINE", "ENTWICKLUNG", "MISSGLÜCKTE LIEBE"


das nahbell-interview 2019

 

01. NAHBELLFRAGE

Liebe melamar, wie kann das passieren, daß eine feste Größe der Wiener Liveliteraturszene wie Du seit so vielen Jahren poetisch unterwegs ist und trotzdem erst dieses Jahr ihren Lyrikdebutband vorlegt?

 

01. NAHBELLANTWORT

Das hat mehrere Gründe. Zum einen habe ich mich vielleicht nicht so wahnsinnig darum bemüht, war immer sehr bühnenorientiert, habe von Auftritt zu Auftritt gelebt, andererseits gab es Situationen, in denen es fast zur Publikation eines Lyrikbandes gekommen wäre. So bot ich dem längst nicht mehr existierenden Mini-Verlag "Viza Edit" einst Gedichte an. Der Verleger besuchte mich, um über das Projekt zu reden, und sah ein Prosa-Manuskript auf dem Tisch liegen. Er fragte danach und ich gab es ihm zu lesen. So kam es zur Veröffentlichung meines ersten Romans "Fall in die Nacht". Auch dem ebenfalls in Wien beheimateten Verlag "Wortreich" bot ich Lyrik an. Die Verlegerin des noch jungen Verlages, Karoline Cvancara, erklärte mir, eine Lyrikschiene könne sie sich noch nicht leisten, zuerst müsse der Verlag wirtschaftlich auf die Beine kommen. Sie fragte aber, ob ich nicht vielleicht einen Roman in der Schublade hätte. Hatte ich nicht, aber zumindest einen in Arbeit. So kam es zur Veröffentlichung meines zweiten Romans "Bukuríe". Das allerste Mal aber, dass ich mich um die Veröffentlichung eines Gedichtbandes bemühte, war ich erst 18. Der Verleger, weit über 30, und für mein damaliges Empfinden uralt, machte mir Avancen. Als ich mich nicht mit ihm einlassen wollte, ließ er das Projekt, das bereits so weit gediehen war, dass Layout-Fragen erörtert wurden, platzen. Das war eine schmerzhafte Erfahrung, die mich vorsichtig werden ließ.

 

02. NAHBELLFRAGE

Warum hast du deine Gedichte denn nicht im "schnellkopierten" Selbstverlag herausgebracht, um sie wenigstens bei deinen zahlreichen Auftritten anbieten zu können? Gibt es diese Tradition einer handgemachten "Undergroundliteratur" überhaupt in Österreich? Früher lagen auf deutschen Büchertischen bei Offszene-Veranstaltungen immer sehr viele selbstverlegte Publikate (man war dann offiziell ein "Kleinstverleger", meist unter der Steuergrenze), oftmals wesentlich bibliophiler und experimentell mutiger als konventionelles Druckwerk. Dein Publikum bei Poetryslams oder als "Frau des Jahres" hat doch bestimmt danach gefragt? Hast du Lyrik stattdessen in Literaturzeitschriften veröffentlicht? Oder waren deine Texte eher als Liveliteratur angelegt, die ihre poetische Kraft (gemäß einer gängigen meinung konservativer Literaturverwaltern) nur gehört, nicht aber gelesen entfalten?

 

02. NAHBELLANTWORT

Ich habe in sehr jungen Jahren im Alter von 15, 16 meine eigenen Lyrikhefte gebastelt und in meinem Freundeskreis "vertrieben". Die meisten habe ich verschenkt oder ich habe sie gegen Naturalien, wie Zigaretten und ähnliches, getauscht. Später, als ich meine Texte in Literaturzeitschriften unterbrachte, habe ich eher die Zeitschriften bei meinen Lesungen aufgelegt. Dann wurden die Zeitschriften von Anthologien abgelöst. Und jetzt lösen die Einzelpublikationen gerade die Anthologien ab. Mir war phasenweise die gesprochene Darbietung sehr viel wichtiger als das gedruckte Wort. Ich habe dann auch selbst gebrannte CDs angeboten. Auch damit habe ich wieder aufgehört. Warum eigentlich? Ich glaube, ich habe auch bei den CDs den größten Teil verschenkt. Ich hatte nicht wirklich Talent dafür, meine Poesie in Kapital zu verwandeln, dafür ging mir dann allerdings ein wenig die Luft aus. Nachfrage bei Lesungen gab und gibt es schon regelmäßig, das hat mich auch motiviert, mich doch um Buchveröffentlichungen zu bemühen. Ich habe auch immer Texte online gestellt, vor allem in Form von mp3s. Der Vergleich mit der deutschen Offline-Szene... ich kenne da eben die deutsche Szene zu wenig, um das wirklich so vergleichen zu können. Aber natürlich gibt es auch in Wien Leute, die verschiedenartige Wege nutzen, um ihre Literatur unters Volk zu bringen. Viele vertreiben selbst editierte Hefte, manche lassen sich kreativere Dinge einfallen. Erst kürzlich hielt ich wieder eine Schriftrolle von Georg Sturmlechner in Händen, gebastelt aus einer alten Endllos-Zigarettenpapier-Packung. Oder der "Zetteldichter" Helmut Seethaler, der macht seit vielen Jahren Installationen im öffentlichen Raum, im Rahmen derer er seine "Pflückgedichte" anbietet. Ich weiß nicht, wieviel er schon an Strafen dafür bezahlt hat, die Wiener Linien haben ihn schon oft angezeigt und ihn auf Reinigungskosten verklagt, aber er gibt nicht auf, er und seine "Literatur zum Pflücken" sind eine Institution in der Stadt. Und was die klassischeren Publikationen betrifft, da fällt auf, dass im Großen und Ganzen die Selfpublisher heutzutage nicht mehr so Fanzine-mäßig auftreten wie vielleicht vor zwanzig Jahren noch. Das hat wohl damit zu tun, dass durch den Digitaldruck heute auch kleine Auflagen von Taschenbüchern gedruckt und bei Bedarf nachgedruckt werden können. Österreich profitiert da noch von seiner östlichen Lage. Viele Druckereien in der Slowakei, in Ungarn oder anderen Ländern der Region drucken zu sehr günstigen Konditionen. Da gibt es deutschsprachige Ansprechpersonen, manche bieten auch Zusatzdienste wie Grafik und Layout. Als Folge davon sieht man doch einiges an relativ professionell wirkenden Eigenpublikationen auf den Büchertischen, die sich von Verlagspublikationen auf den ersten Blick mitunter kaum unterscheiden. PS: Habe erst kürzlich in einer Schachtel alte Lyrikhefte, die ich als 15-jährige gebastelt habe, gefunden, habe dir die Cover eingescannt

 

03. NAHBELLFRAGE

Wurdest Du als Teenager von deinem familiären Umfeld supportet oder wollte man Dir die Flausen austreiben? Ein dichtendes Kind ist doch nicht ganz dicht in den Augen normaler Erwachsener... oder erkannten deine Eltern in dem Talent eine Hochbegabung? Wie haben die Lehrer und gleichaltrige Freunde/Mitschüler auf deine poetischen Ambitionen reagiert?

 

03. NAHBELLANTWORT

Ich komme aus eher bildungsfernem Milieu. Meine Mutter war Fabrikarbeiterin. Die Großeltern, bei denen ich einen Großteil meiner Kindheit verbrachte, bis zu meinem 13. Lebensjahr, betrieben eine kleine Landwirtschaft. Dass ich schon sehr früh hungrig nach Büchern war, wurde positiv aufgenommen, aber nicht besonders gefördert. Als ich dann zu schreiben begann, wurde das erst so richtig zur Kenntnis genommen, als ich im Alter von 16 meinen ersten öffentlichen Auftritt hatte und die Lokalzeitungen darüber berichteten. Meine Großmutter hat diese Artikel gerne Besuchern gezeigt und sie bis zu ihrem Lebensende aufgehoben. Sie war sehr stolz darauf. Für das, was ich schrieb, hat sich in meiner Familie in der Frühphase aber niemand interessiert. War auch sehr düsteres, depressives Zeug, damit wollte sich wohl niemand konfrontieren. Eine Hochbegabung? An so etwas hat in meiner Familie niemand gedacht. Ich wurde eher an meinen Defiziten gemessen. Wenn ich in Deutsch Klassenbeste war, hat das niemanden interessiert, daran war man gewöhnt, aber wenn die Mathe-Schularbeit daneben ging (und Mathe hat mich null interessiert) dann gabs Zores... Ich hab die Schule phasenweise gehasst und mich dort gelangweilt, aber trotzdem gab es immer wieder Lehrer, die mich gefördert haben. Der erste, der in mir eine künstlerische Begabung sah, war ein Zeichenlehrer in der 8.Schulstufe. Er schlug meiner Mutter vor, ich sollte eine Kunstgewerbeschule besuchen. Ich weiß nicht, ob ich dort tatsächlich die Aufnahmeprüfung geschafft hätte. Wenn, dann hätte ich im 80 Kilometer entfernten Graz zur Schule gehen und im Internat wohnen müssen. Vielleicht wäre das gut für mich gewesen; denn die familiäre Situation war durch ein sehr schwieriges Verhältnis zum Stiefvater belastet. Meine Mutter wollte mich aber nicht fort lassen. Einer anderen Lehrerin fielen meine Stimme und meine Art zu sprechen auf. "Du hast eine Medienstimme" sagte sie mir und teilte mich ein, Schulfeste zu moderieren. Ich hab mich darum nicht gerissen, aber es klappte. Ich hab auch mal Theater gespielt und im Schulchor gesungen. Ich kann mich also nicht darüber beschweren, dass ich in der Schule nicht gefördert worden wäre. Auch bei meinen Mitschülern kam es durchaus an, was ich machte. Ich verschenkte meine ersten selbst gebastelten Lyrikhefte an Freundinnen, dann kamen andere Kolleginnen und Kollegen und fragten nach welchen. Ich ließ mich gerne mit Zigaretten und weiteren Naturalien bezahlen. Als ich anfing, mit Faserschreibern auf Wände zu schreiben und plötzlich nach Tätern gesucht wurde, gab es viele Leute, die mich hätten verraten können, aber keiner tat es. Nach meiner ersten Lesung wurden in einem der bereits erwähnten Zeitungsartikel Texte von mir zitiert, die ich zuvor schon auf Wänden veröffentlicht hatte. Deren Eigentümer konnten wenig mit meiner Kunst anfangen, sie hatten Anzeige wegen Sachbeschädigung erstattet. Glücklicherweise lasen weder sie noch die mit dem Fall betrauten Polizisten den Kulturteil der Zeitung. Ambitionen. Ich hatte in der Frühphase meines Schreibens keine Ambitionen, ich tat einfach, was ich nicht lassen konnte. Ich entdeckte das Schreiben als ein seelisches Gleichgewichtsorgan für mich. Als etwas sehr Persönliches. Das Schreiben hat mir in schwierigen Phasen vielleicht das Leben gerettet. Das ist keine Metapher. Ich habe viele Freunde verloren, die sich auf die eine oder andere Weise das Leben nahmen. Manche ganz bewusst, andere mehr auf Raten. Die hatten nicht so ein Ventil. Ich habe Glück gehabt, ich konnte aus mir herausschreiben, was mich bedrückte.

 

04. NAHBELLFRAGE

Welche Fragen beschäftigen Dich in der Lyrik am meisten? Kannst Du zwei, drei Gedichte anführen, die Deine Lieblingsthemen repräsentieren? Was hat Dich früher/anfangs bedrückt und was heute? Ist die Lyrik noch immer Ventil zur seelischen Homöostase? Und warum funktioniert das tatsächlich als Selbstschutz gegen Depression oder Selbstmord?

 

04. NAHBELLANTWORT

Lieblingsthemen... Hmmm... Also wenn ich jetzt so drüber nachdenke, dann kann ich doch etliche Texte unter dem Begriff "Gerechtigkeit" oder eben "Ungerechtigkeit" zusammen fassen. Jene meiner Texte, die als "politisch" wahrgenommen werden, sind häufig Anklagen oder Beschreibungen von Missständen oder einfach Niederschriften von Begebenheiten. So habe ich zum Beispiel einen Spoken-Word-Text namens "S-Bahn-Nazi", der auf einem realen Erlebnis in einer Wiener S-Bahn beruht, man könnte fast sagen, eine Wiener Alltagsgeschichte.

 

S-BAHN-NAZI


Ein anderes Thema, das immer wieder kehrt ist die Liebe, in allen ihren Formen, als geistige Liebe und Lebensprinzip, aber auch als erotische Liebe:


LESESTUNDE

ich wähnte mich
unbeobachtet
als ich das buch
küsste
doch er stand
in der tür

krieg ich auch einen kuss?
aber klar doch!

komm, lass mich lesen
gedichte
auf deinen lippen
in deinem mund

lass mich
geschichten lesen
auf deiner haut

lass dein geschlecht
und mein geschlecht
neue stücke aufführen
in eigenregie


Viele meiner Texte genießen aber auch einfach die Freude an der Sprache und am Spiel mit derselbigen. Auf die Spitze getrieben habe ich das wohl in meinem Spoken Word Poem "Der Wurm im Elfenbeinturm", vom österreichischen Poetry-Slam-Veteranen Jimi Lend als "Endreimorgie" bezeichnet. Der Text hat mich damals, als er entstand, auch wieder zum slamen gebracht, nachdem ich zuvor ein paar Jahre lang keine Auftritte bei Slams gemacht hatte.


DER WURM IM ELFENBEINTURM


Auch dies ein typischer Spoken Word Text, der sehr von Betonung und Stimmeinsatz lebt. Was hat mich früher beschäftigt? Die frühen Gedichte waren sicher in viel stärkem Ausmaß autobiografisch geprägt. Da ging es sehr viel um Einsamkeit, um Wut, um Trauer, um Verzweiflung, bis hin zur Todessehnsucht. Es ging viel mehr darum, das eigene Gefühlsleben auf Papier zu bannen. Es sieht fast so aus, als hätte ich mit den Jahren gelernt, dass das eigene Ich nicht das einzige Thema ist. Als hätte ich mich vom Ich zur Welt hin bewegt. Auch dass ich jemals einen so humoristischen Text wie den "Wurm im Elfenbeinturm" schreiben würde, hat sich mit sechzehn nicht abgezeichnet. Damals war ich schwer depressiv. Nicht dass ein depressiver Mensch nicht auch humoristisch schreiben kann, aber in meinem Fall war es nicht so. Oder mein Humor war zu schwarz, den Leuten blieb das Lachen im Hals stecken. Aber das Schreiben ist immer noch eine Strategie, das Leben zu bewältigen, daran hat sich nichts geändert, auch wenn die entstehenden Texte weniger bedrückend sind als damals. Du fragst, warum es funktioniert, warum das Schreiben ein Selbstschutz sein kann... Ich würde sagen, es kann eine Methode sein, sich selbst ein Freund oder eine Freundin zu sein. Man würde jemanden brauchen, der einem zuhört. Durch Vermittlung des Papieres kann man tatsächlich in die Rolle dieses Zuhörers schlüpfen. Auch hat es mitunter etwas Magisches ein Problem auf Papier zu bannen. Mancher Elefant erscheint plötzlich als Mücke, wenn man sich das Geschriebene noch einmal durchliest. Es hilft, Abstand zu gewinnen und sich Luft zu machen.

 

05. NAHBELLFRAGE

Der Organisator der Türsprechanlagen-Lesungen der Berliner Dichtergruppe "INUNDAUSWÄNDIG" hatte das Tourette-Syndrom, gekoppelt an Epilepsie. Er sagte kurz vor seinem Tod, daß er endlich nicht anders konnte als so experimentell wortspielerisch zu dichten, wie er es vor der Krankheit nie willentlich geschafft hatte. Die Wörter purzelten krankheitsbedingt dadaistisch durcheinander und ergaben Sprachspielereien, die seinem poetischen Anspruch endlich genügten. So viel nur zu dem von Dir erwähnten Syndrom. Auf welchem Festival bist du jetzt gerade in Mexiko aufgetreten und wodurch kam die Einladung zustande? War es gut besucht? Warst Du erfolgreich? Sind dort noch weitere deutschsprachige Dichter aufgetreten? Wurden Deine Texte live on stage synchron übersetzt?

 

05. NAHBELLANTWORT

Das Tourette Syndrom gekoppelt an Epilepsie,... das macht mich sehr nachdenklich, ich wusste nicht, dass es das gibt. Ich bin selbst Epileptikerin, habe aber nie erlebt, dass die Krankheit meine Sprachfähigkeit verändert. Sehr wohl aber Medikamente, die ich bekam, sehr zum Negativen, wie ich leider sagen muss. Besonders ein Medikament blockierte mich total, so sehr, dass ich das Gefühl hatte, nicht mehr schreiben zu können. Ich hatte heftige Sprach- und Gedächtnisstörungen. Der behandelnde Neurologe meinte lapidarisch: "Sie sind anfallsfrei, was wollen Sie mehr?" Derzeit bin ich in Mexiko. Ich toure gemeinsam mit dem mexikanischen Poeten Raúl Gibrán durch den Bundesstaat Jalisco. Ihm habe ich die Einladung zu verdanken. Wir lernten uns vergangenes Jahr auf einem Poesiefestival in Curtea de Arges in Rumänien kennen. Wir machen Lesungen in öffentlichen Schulen. Davor war ich im Bundesstaat Michoacán und bin dort beim "23 Encuentro internacional de poetas de Zamora" aufgetreten, einem international besetzten Poesiefestival, bei dem 42 Poet/innen aus verschiedenen Ländern aufgetreten sind. Es war wirklich eine großartige Erfahrung! Beim Festival in Zamora waren sehr unterschiedliche Leute zu Gast, vom Nachwuchstalent bis hin zu etablierten Autor/innen. Ich hatte die Ehre, als einzige Teilnehmerin aus Europa geladen zu sein. Die Unterstützung des österreichischen Kulturforums in Mexiko machte es möglich. Neben mir war noch ein (portugiesischsprachiger) Poet aus Brasilien da, wir waren die einzigen nicht-Spanisch-Muttersprachler/innen. Die anderen Teilnehmer/innen kamen aus Argentinien, Bolivien, Chile, Costa Rica, Guatemala, Mexiko, Paraguay, Kanada und Kolumbien. Die Übersetzungen habe ich mitgebracht. Einige Texte hatte ich schon, da ich vor ein paar Jahren zur Lesereihe "En espanol por favor" in Wien geladen war. Andere Texte habe ich selbst übersetzt und sie anschließend von einem Muttersprachler lektorieren lassen, das war aber doch recht aufwändig. Zwar habe ich durch mein Hispanistik-Studium eine recht hohe Sprachkompetenz, ich habe mich aber trotzdem dazu entschieden, mit einem professionellen Übersetzer mit spanischer Muttersprache zusammen zu arbeiten. Bei den Lesungen habe ich meine Texte selbst vorgetragen, was sehr gut funktioniert hat bzw. sehr gut funktioniert. Ich habe zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch sechs Auftritte vor mir. Alle in Schulen. Die Kids hier sind sehr lebendig, sehr direkt. Wenn es ihnen gefallen hat, kommen sie nach der Lesung um einen zu umarmen. Das hat mich anfangs überrascht. Sie sind auch sehr offen, erzählen von ihren Schwierigkeiten, vom Alkoholismus der Eltern beispielsweise oder von ihren Träumen. Sowohl Erwachsene als auch Jugendliche sind fasziniert, eine Autorin aus Europa zu treffen. Durch die angespannte Beziehung mit dem übermächtigen Nachbarn USA und der allseits bekannten Diskriminierung der dort lebenden Hispanics sind die Menschen in Lateinamerika auf der Suche nach Alternativen und gerade die Intellektuellen schauen wieder mehr nach Europa. Ich habe hier viele talentierte junge Leute getroffen, die, im Gegensatz zu ihren oft übersatten, konsumgeschädigten Altersgenossen in der sogenannten ersten Welt, schon von Kindesbeinen an gelernt haben, Probleme zu lösen. Sie sind Lebenskünstler/innen, schlau und kreativ, hier schlummert sehr viel Potential. Es freut mich, dass ich dazu beitragen darf, Brücken zu bauen.

 

06. NAHBELLFRAGE

Auf diese wunderbare Weise bist du also doppelt politisch: IN den Texten und DURCH die Texte als Mensch hautnah, wie schön! Daß Du aufgrund einer Lesung sogar umarmt wirst, stelle ich mir emotional sehr berührend vor. Das sollte uns mal HIER passieren, kaum vorstellbar... Wie sehen Deine langfristigen Zukunftspläne aus? Hast Du eine Vision, wo es mir Dir persönlich hingehen soll, einen Plan, was Du bis zum Tod erreichen willst - und eine Prognose, wie es sich ganz allgemein auf der Welt mit der Bedeutung von Poesie entwickelt?

 

06. NAHBELLANTWORT

Ja, die Begegnungen mit den jungen Leuten hier sind sehr berührend. Jedes Mal sind auch welche dabei, die selbst schreiben oder sonstwie künstlerisch tätig sind. Sie kommen und erzählen von ihrer persönlichen Situation, holen sich Tipps. Es ist erschreckend, wie sehr die angespannte Lage zu den USA das Selbstbewusstsein der Menschen beeinflusst. Sie halten sich selbst angesichts der übermächtigen USA für minderwertig, glauben, sie könnten nichts erreichen. Oder müssten unbedingt weggehen. Da ist der 15-jährige Schüler, der einen landesweiten Fotografie-Wettbewerb gewonnen hat, der meint, er müsse zum Film-Studium unbedingt in die USA, der ganz erstaunt ist, wenn man ihm erklärt, dass sich in Mexiko-Stadt eine hoch renommierte Filmakademie befindet. Da ist der junge Gitarrist, der aus dem Norden des Landes stammt, der von seinem Kinderzimmer aus die Grenze zu den USA sehen konnte und sie doch nie überschritt. Für mich, die ich im Süden Österreichs, im Grenzland zu Jugoslawien (später Slowenien) und Italien aufwuchs, ist das schier unbegreiflich. Ich erlebte offene Grenzen, auch schon vor dem EU-Beitritt. Für uns war es ganz normal, am Samstag zum Einkaufen nach Jugoslawien oder Italien zu fahren. Diese Grenz-Situation im Norden Mexikos, die stellt auch eine Barriere im Denken der Menschen dar. Die US-Amerikaner/innen, die man hier trifft, sind entweder Leute, die zumindest genug Geld haben, sich eine Urlaubsreise ins Ausland leisten zu können oder vielleicht sogar ein Ferienhäuschen zu erweben, andere sind Geschäftsleute, die hier investieren. Es entsteht ein einseitiges Bild. Die "Gringos" seien reich, glaubt der Durchschnittsmexikaner. Dass in den USA bei weitem nicht alle reich sind, wollen viele nicht glauben. Auch kulturell ist da eine Barriere. Wenn ich erzähle, dass ich Freund/innen in den USA habe, die allesamt Poet/innen sind und Anti-Trump-Aktivist/innen, dann ernte ich Erstaunen. Ich wundere mich, warum es da so wenig Vernetzung gibt. Aus diesem Gefühl des von-den-übermächtigen-USA-abgelehnt-Werdens heraus lehnen viele Mexikaner/innen ihrerseits pauschal alles ab, was aus den USA kommt. Da gibt es Spoken Word Poet/innen, die keine Ahnung haben, wer Allen Ginsberg war, man liebt die Musik der mexikanischen Rockband "Molotov", kennt aber Iggy Pop nicht, auch nicht Patty Smith... Man verweigert die englische Sprache. Ich schreibe ja auch teilweise in Englisch und ich lasse es mir nicht nehmen, bei meinen Lesungen darauf hinzuweisen, dass Englisch eine Sprache ist, die aus Europa kommt und in weiten Teilen der Welt gesprochen wird, nicht nur in den USA. Manche Kids machen da echt mal große Augen! Meine Zukunfstpläne, meine Visionen... Danke, dass du mir diese Frage stellst! Manchmal ist eine gute Anregung, wenn da so ein Anstoß nachzudenken von außen kommt... Was will ich noch erreichen? Also mir fällt da eine Anekdote ein. Im Flugzeug nach Mexiko kam es zu Turbulenzen, nicht weiter schlimm, aber einen Moment kam mir der Gedanke: "Was wenn ich jetzt sterbe?" Und prompt schoss mir eine Antwort ein: "Ich kann jetzt unmöglich sterben, ich hab meine Wohnung in Wien nicht aufgeräumt!" Ich muss dazu sagen, dass ich vor meiner Abreise mein Arbeitszimmer an meinen Nachmieter übergeben habe und mein neues Text-Atelier erst nach meiner Rückkehr beziehen werde, in der Zwischenzeit stapeln sich also einige Schachteln und Kisten in meiner kleinen Bude, es sieht ein wenig wild aus. Aber irgendwie absurd, dass der Gedanke an den Tod dieses Bild herauf beschwört. Ich kann doch nicht sterben, ohne meine Wohnung aufgeräumt zu haben! Wahrscheinlich habe ich noch andere Ziele. Noch ein paar Texte schreiben, ein paar Bücher veröffentlichen, irgendeinen sinnvollen Beitrag leisten zu diesem verrückten Ganzen. Aber eben auch aufräumen, nicht einfach eine Wohnung, sondern das Leben, klare Verhältnisse schaffen. Eigentlich bin ich ein eher chaotischer Mensch, seltsam, dass mich in so einem Moment das Thema "Ordnung" bewegt. Soll es mich enttäuschen, dass mir nicht eher der Gedanke an die Weltordnung, an die großen Dinge, kam? An den Klimawandel, an die sozialen Ungerechtigkeiten? Aber vielleicht hängt das alles zusammen? Ist nicht auch die Poesie ein Auffinden von Ordnung mitten im Chaos der Worte und Gedanken? Wie wird es mit der Poesie weiter gehen? Sie wird leben, solange es Menschen gibt, davon bin ich überzeugt. Sie wird neue Formen annehmen, wird sich mit neuen Generationen neu erfinden, verschwinden wird sie nicht. Davon überzeugen mich die vielen jungen Menschen mit Notizbüchern in Händen, die ich täglich treffe, die mir nach meinen Lesungen ihre selbstverfassten Gedichte schenken. Die Poesie wird immer wieder aus den akademischen Käfigen ausbrechen und sie wird sich immer wieder neu auf ihre Wurzeln besinnen. Ich glaube, die Poesie ist ganz eng verknüpft mit dem Menschsein an sich. Diese Wahrnehmung des Poetischen, das ja eine zutiefst spirituelle Erfahrung beinhalten kann, die wird nie verschwinden, auch wenn die Marketingleute mancher Verlage das zu glauben scheinen. Lyrik mag am Buchmarkt ein eher schwer verkäufliches Produkt sein, aber vielleicht tut ihr das auch gut. Die Lyrik bleibt dadurch ein sehr authentisches Genre.

 

07. NAHBELLFRAGE

Das ist ein sehr weiser und mutmachender Appell zum Ende des Interviews! Meine liebe melamar, ich bin überglücklich, Dir dieses Jahr zum Nahbellpreis gratulieren zu können. Mir fällt keine einzige sinnvolle Frage mehr ein, zumal es schon kurz vor Mitternacht ist und ich total gestresst damit bin, in wenigen Minuten überall gleichzeitig die Presse und die Unterseiten aller drei Preisträger freischalten zu müssen, hahahaha. Daher überlasse ich Dir die letzten Worte und bitte Dich einfach nur zu erzählen, was Du einem jungen dichtenden Mensch auf den Weg geben würdest, der vielleicht dieses Interview liest und an der Welt fast verzweifelt, weil er sich einsam, alleine und völlig bescheuert vorkommt, so etwas Peinliches zu tun wie "dichten" (ich selbst höre noch heute manchmal ein verwundertes "Aha, Gedichte? Nie erwachsen geworden, oder was?") . . .

 

07. NAHBELLANTWORT

Vielen lieben Dank! Ich freue mich sehr! Und ich fühle mich wirklich geehrt! Yippieh! :-) Was kann ich einem jungen, dichtenden Menschen mit auf den Weg geben... Na ja, zuerst einmal, dichten ist nicht peinlich! Die ältesten der Menschheit überlieferten Texte sind in Versform verfasst. Was natürlich auch mnemotechnische Gründe hat. Aber Dichtung ist eng verknüpft mit dem Entstehen menschlicher Kultur, sie ist ein Ausdruck menschlichen Geistes. Ich habe das Schreiben in der Jugend für mich entdeckt, in Lebensphasen, in denen es mir gar nicht gut ging. Das Schreiben hat mir dabei geholfen, mir selbst eine Freundin zu sein. Es hat mir geholfen zu überleben. Angesichts dessen wirkt alles andere, Erfolg, Ruhm und Ehre, beinahe banal. Das Schreiben hat einen Wert für sich. Wenn dabei etwas herauskommt, das auch andere inspiriert, ist das eine großartige Draufgabe. Ich habe nie geschrieben, um erfolgreich zu sein, das hat mir immer eine gewisse Unabhängigkeit gegeben. Eine Unabhängigkeit von fremden Meinungen. Wer mit Texten nach außen geht, macht sich verletzlich. Man muss die Fähigkeit entwickeln, Kritik auszuhalten. Am besten gelingt das, wenn man zuerst einmal in sich selbst verankert ist. Dann kann es einem nicht mehr so leicht weh tun, was andere sagen. Und nicht zu vergessen: gerade jene, die im Laufe der Jahrhunderte innovativ waren und neue Wege einschlugen, wurden am meisten bekämpft. Es ist also nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen, wenn man kritisiert wird, dies geschieht auch jenen, die ihrer Zeit voraus sind. Gaaanz ganz liebe Grüße aus Puerto Vallarta! Sei umarmt! mel