01. NAHBELLFRAGE
Liebe Sophie Reyer, in diesem Jahr fällt der Nobelpreis für Literatur wegen all der Skandale aus bzw. wird auf das nächste Jahr verschoben. Der Nahbellpreis dagegen wird dieses Jahr erstmals an ZWEI ausgewählte Dichterinnen vergeben, die noch dazu beide aus Österreich stammen. Ich bin froh darüber, endlich wieder einmal Frauen unter den Kandidaten gehabt zu haben, aber eine Entscheidung zwischen den beiden Finalisten war letztlich unmöglich und da voriges Jahr der angebliche Frauenmangel in der Lyrikszene wiedermal durch die deutsche Presse ging, erschien es nur sinnvoll, den Preis feminin zu verdoppeln, um mit Euch beiden stellvertretend zu zeigen, daß dieser scheinbare Frauenmangel von denselben Medien mitverantwortet wird, die ihn beklagen; denn kritische originelle Dichterinnen gibt es sehr wohl, aber sie werden genauso oft und gern von der Presse ignoriert wie auch die wirklich interessanten Männer der Lyrikszene, die keine preisgekrönte Gemüsedichtung verfassen. Nun bist Du im Gegensatz zu Deiner Mitgewinnerin Tanja Play Nerd keine Newcomerin oder Jungautorin, sondern im Gegenteil: Sophie Reyer ist quasi schon eine feste Instanz in der Szene mit einem beachtlichen Oeuvre und zahlreichen Publikationen und öffentlichen Projekten, obwohl Du noch immer recht jung bist. Zuletzt warst Du grad erst vor kurzem zu Gast im LCB (Literarisches Colloquium Berlin), wie ich auf Deinem Facebook-Profil erfuhr. Was hast Du genau dort gemacht? Zu was hast Du die Zeit des Stipendiums dort genutzt? Hast Du während des Aufenthalts auch an Lyrik gearbeitet? Kannst Du uns eine topaktuelle poetische Kostprobe geben?
01. NAHBELLANTWORT
Ich hatte ein Stipendium, das im August noch einmal fortgesetzt wird. Im Grunde habe ich Inspiration genossen, einen herrlichen Ort, Spaziergänge am Wannsee, viele Museumsbesuche in Berlin - und ein sehr liebes Team. Und natürlich habe ich viel geschrieben und gelesen, fast jeden Tag, da es auch tolle Lyrikbände in der Bibliothek gab, die mich inspiriert haben. Beispielsweise Arbeiten von Ulrike Almut Sandig und Jan Skudlarek, aber auch historisches Material zu der Dichterin Christine de Pizan. Daraus entstanden einige Texte, die ich dir gern als poetische Kostprobe vorlese, wobei ich nicht sicher bin, ob ich die Texte jemals publizieren werde; sie müssen noch "geschliffen" werden. Aber schau einfach mal, wie du sie findest. Also:
:
bleiches Licht als Milch
von Nebel umleckten Wiesen
eisummantelte Grashalme sind schlanke Knochen
auf gekrümmten Flügeln zieht ein Vogel Kreise
Frosttage kalt und verraucht
ich vergess jeden Winter wieder
die Sommer
:
wenn die Nacht eine Stadt ist
Schimmer & Stämme der
Hochhäuser
wo ist noch
wohnen
:
fiel Fäulnis der Früh
Knochen drängen aus Haut
Gehen Sterne
unter?
:
Gehen Sterne
unter?
(Aber es werden
andere)
02. NAHBELLFRAGE
Ich las in einem alten Artikel über Dich bei KUNO, daß Du Dich damals in Anspielungen oder Widmungen auf Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Rainer Maria Rilke, Margret Kreidl, Olga Flor und Petra Ganglbauer bezogen hättest. Sind das Deine Lieblingsdichter und wenn ja: warum?
02. NAHBELLANTWORT
Die Arbeit mit Texten von Kolleginnen hat mich von jeher beeinflusst. Besonders wichtige Werke des Kanons von Dichtern wie Ingeborg Bachmann, Paul Celan bis zurück zu Rainer Maria Rilke waren da wichtig, aber ich beziehe mich auch gerne auf die Arbeiten von Kolleginnen, da diese Momentaufnahmen unserer Gesellschaft widerspiegeln. So habe ich beispielsweise einen regen Dialog mit Petra Ganglbauer entwickelt. Anbei auch unser Manifest, ich denke, damit ist eigentlich alles gesagt:
P.ROSA ist das Rosa in Prosa -
Rosa ist der offene Werkcharakter.
Rosa ist prozeßorientiert.
Rosa ist Gestaltungselement.
Rosa ist generationsüberschreitend.
Rosa ist gattungsüberschreitend.
Rosa ist Verständigung von Autorin zu Autorin.
Rosa ist die Verschränkung von Poetischem und Politischem.
Rosa ist Raumerkundung.
Rosa ist Raumauslotung.
Rosa ist Raumüberwindung.
Rosa spielt -
Rosa spielt Ernst -
Rosa schreibt -
Rosa klingt -
Rosa schwingt -
Rosa spricht -
Rosa singt -
Rosa filmt -
Rosa zeichnet -
in P.ROSA
Arbeitsweise: Mit unterschiedlichen Medien soll gespielt werden: da werden Puppenkörperteile zu sogenannten "Textkörpern", zu manifestierter "Körperprosa", da zirpen die Sounds der lyrischen Texte als Installationen im Raum, da weisen Videos der Autorinnen den Weg durch die begehbare Textlandschaft. Ein Abend für alle Sinne, der in einer Permanentausstellung seine Spuren hinterlässt.
03. NAHBELLFRAGE
Welche weiteren (klassischen und/oder zeitgenössischen) Dichter(innen) haben Dich "beeinflusst" oder begeistern Dich heute noch? Magst Du die Dadas wie z.B. Hans Arp? Kennst Du sein Gedicht "SOPHIE"? Bei den Zeilen "Ich spreche kleine, alltägliche Sätze leise für mich hin. (...) Die Sterne sind Blumen, die im Himmel blühen." musste ich grad an Deine aktuelle "ungeschliffene" Kostprobe denken (die mir beweist, wie wunderschön Rohdiamanten sein können!), weil es fast schon wie ein poetologisches Programm wirkt, von kleinen, alltäglichen Sätzen zu sprechen. Das trifft auf Deine Lyrik doch auch zu?
03. NAHBELLANTWORT
Freilich sehe ich eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Literatur als Um und Auf für mein gegenwärtiges Schreiben. Insofern habe ich mich immer intensiv mit historischen Strömungen aller Art auseinander gesetzt, die von der Literatur babylonischer Epen über die griechische Antike und Texte des Mittelalters -insbesondere Christine de Pizan war eine besondere Entdeckung für mich- bis hin in die Gegenwart hinein reichen. Alle Neuerungen und Umbrüche finde ich grundsätzlich spannend. Dazu gehören für mich natürlich auch sämtliche Strömungen des Dadaismus, Surrealismus und Expressionismus, wobei ich diese auch immer wieder in meinen Poetik- Vorlesungen auf der Schreibpädagogik Wien präsentiert habe. Einer meiner besonderen Lieblingskomponisten dieser Zeit ist der wunderbare John Cage. Doch auch Hans Arps Werk hat mich immer wieder inspiriert. Ausgerechnet sein Gedicht "Sophie" kenne ich allerdings zugegebener Maßen nicht. Tatsächlich ist es so, dass ich es fast schon als poetologisches Programm beschreibe, von kleinen, alltäglichen Sätzen zu sprechen.
04. NAHBELLFRAGE
Apropos "klein": Du hast doch auch einmal den Twitteraturpreis von KUNO gewonnen, oder nicht? Warum findet man trotzdem keine Ultrakurzgedichte als echte Tweets von Dir auf Twitter? Inwiefern ist der Preis denn dann überhaupt gerechtfertigt bzw. wie ist er zu verstehen? (HEL ToussainT bekam ihn auch, obwohl der total analog lebt und daher der Preis völlig absurd anmutet)
04. NAHBELLANTWORT
Nein, aber vor einigen Jahren hatte ich tatsächlich das Glück, durch KUNO mit dem Essaypreis ausgezeichnet zu werden, während ich auf Twitter in den letzten Jahren nur kaum aktiv war. Ich denke, dass die Kulturnotizen sich mit diesem Begriff bei der Ausschreibung eher auf "zwitschernde" (to twitter) Texte beziehen -also Texte, die hauptsächlich mit Klängen arbeiten, was ja auf mein Werk ohne Zweifel zutrifft- aber auch kurze, knappe Arbeiten - wie eben die Posts, die man auf Twitter findet, damit gemeint sind. Der Begriff "Twitteratur" scheint mir daher so eine Art Hybridwesen zu sein.
05. NAHBELLFRAGE
Texte, die mit Klängen arbeiten? Sind das dann also eher Sprechtexte, die sinnvollerweise expressiv performt werden sollten anstatt nur leise gelesen? Kannst Du bitte ein typisches Gedichtbeispiel für diese Art von "Zwitscherlyrik" anführen? Ist das auch der Grund, warum Texte von Dir so häufig für Theater-Inszenierungen oder als Hörspiel benutzt werden oder handelt es sich da eher um Prosastücke? Und trittst Du selber darum auch häufig live auf, um aus Deinen Büchern zu "zwitschern"?
05. NAHBELLANTWORT
Im Grunde, denke ich, arbeiten alle guten lyrischen Texte mit dem Klang der Sprache, es ist ein Eigenmerkmal, das nun einmal die Gattung Lyrik -die ja aus dem Ritus gewachsen ist, der sozusagen eine Einheit aus Tanz, Klang und "Zaubersprache" bildete- diese Machart aufweist. Entweder, freilich, sollten diese lyrischen Texte generell performt oder aber innerlich gehört werden, was intelligenten Lesern ja auch gelingt. Die Twitteratur weist allerdings auch noch Knappheit und Tagesaktualität in ihrer Form auf: Hier drei "Zwitscherbeispiele" zur Illustration:
:
& zum Himmel hin
:
Perlen aus Tau im Garten
(Wie lange sie schlafen)
:
grüne Lider des Grases
(und bis das Licht)
Was dagegen meine Prosa und Theaterarbeiten betrifft, so würd ich diese nicht als gezwitscherte begreifen, da sie die extreme Kürze dieses Formates nicht aufweisen. Freilich aber sind sie auch quasi mit dem Ohr geschrieben, das heißt, ich höre beim Schreiben eigentlich immer meinem Inneren zu... Und natürlich hilft auch ein gekonnter verbaler Vortrag, dem Publikum Texte, die mit Klang arbeiten, nahe zu bringen.
06. NAHBELLFRAGE
Dem Inneren zuzuhören, klingt ja schon beinahe wie eine Meditationspraxis, was mich wiederum an John Cage erinnert, dessen vielleicht berühmtestes Konzert aus stundenlanger Stille bestand, in der man nur die Geräusche von draußen hörte. Seit wann lauscht Du Deinem Inneren? Gab es ein einschneidendes Erlebnis, einen Aha-Effekt? Oder wie wurdest Du zur Dichterin? Wie und wann begann das alles bei Dir?
06. NAHBELLANTWORT
Ich denke, dass man als Künstler dem Inneren lauschen muss - sonst schafft man nur Arbeiten, die formal angelegt sind, jedoch keinen Inhalt oder Gehalt aufweisen. Ich habe schon als Kind zugehört: dem Rauschen der Birken hinterm Haus, der Bewegung des Schilfs, dem Quaken der Frösche und dem Rauschen der Autobahnen, den Gutenachtgeschichten meines Vaters und so fort - und das Innere schwingt da von jeher mit, es ist in allen Dingen, man muss nur lauschen und sich Zeit nehmen. Ich glaube, ich wurde nie zur Dichterin. Entweder bin ich es schon immer - oder ich werde es ohnehin nie, da bin ich mir nie so sicher. Geschrieben habe ich schon als Kind, Tonnen von Tagebüchern liegen noch bei uns im Keller, die ersten Bücher -damals im von mir geschaffenen S-Verlag- schrieb ich mit 9, über eine Vampir-Elfe genannt Brunhilde...
07. NAHBELLFRAGE
Hast du in Deinem S-Verlag auch schon erste Gedichte veröffentlicht? Kannst Du uns Dein ältestes/erstes Gedicht vorstellen, um es stilistisch mit jetzigen zu vergleichen? Apropos: Würdest Du sagen, daß Du im Laufe Deines gesamten Werkprozesses eine stilistische Entwicklung durchlaufen hast, oder gibt es von Anfang an typische wiedererkennbare Elemente? Gibt es einen Dichter, der Deinem Stil ähnelt, oder gar eine regelrechte "Reyer-Richtung", die bereits Nachahmer findet?
07. NAHBELLANTWORT
Gedichte habe ich erst später geschrieben, ab 11 Jahren, da fand ich den S-Verlag schon nicht mehr so cool... ich habe mich sozusagen von der toughen Kleinen über eine romantische Träumerin bis hin zur experimentellen Lyrikerin entwickelt, und irgendwann hab ich dann alle möglichen Stile ausprobiert und eher formal gearbeitet... was sich allerdings durchzieht ist die Liebe zum Sprachklang -wobei ich keinen Dichter weiß, dem ich wirklich ähnle- doch ich beziehe mich auf viele, da waren aber von Ovid bis Jelinek so viele wichtige "Mentoren", dass ich das nicht einordnen könnte...
08. NAHBELLFRAGE
Wie viele und welche Preise wurden Dir bislang verliehen? Galt darunter einer bereits Deiner Lyrik oder zielten die mehr auf Dein prosaisches Werk? Haben diese Preise dazu beigetragen, Dein Prestige zu erhöhen und ernster genommen zu werden als davor? Wie schätzt Du die praktische Bedeutung von Literaturpreisen insgesamt ein? Und wie gerecht sind sie Deiner Meinung nach verteilt? Empfindest Du Unterschiede in der Handhabung von Preisen zwischen Deutschland und Österreich?
08. NAHBELLANTWORT
Mir wurden bereits in den unterschiedlichsten Sparten Preise verliehen, was sich meist gut angefühlt hat, da es mit Geld verbunden war - ob ein Preis dazu beiträgt, das Prestige zu erhöhen, kann ich nicht beurteilen, ich denke schon - vielleicht hat es aber auch fast mehr mit Glück zu tun bzw. mit dem Geschmack der Jury... Jedenfalls gibt es in Österreich mehr Möglichkeiten, an Förderungen zu gelangen, als in Deutschland, das ist das Einzige, was ich über Literaturpreise mit Sicherheit sagen kann... Anbei meine Preisliste:
2007: Literaturförderungspreis der Stadt Graz.
2008: Preis der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse.
2008: Stipendium der Stadt Graz und Stipendium des Landes Steiermark.
2009: Stipendien-Aufenthalt auf der Insel Hombroich.
2009: Manuskripte-Förderungspreis der Stadt Graz.
2009: Österreichisches Startstipendium verliehen vom Bundesministerium für Kunst und Kultur.
2010: Eine der 4 Teilnehmerinnen des "stück für stücke"- Wettbewerbs im Schauspielhaus Wien.
2010: Preis der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse.
2010: Minna-Kautsky-Literaturpreis 3. Platz für die Kategorie "Prosa".
2011: Stipendienaufenthalt in Köln: Arbeit an einem Hörstück über Rolf Dieter Brinkmann.
2011: Stipendienaufenthalt in der Villa Waldberta in München (Projekt: Sisi- Syndrom).
2011: Teilnahme an "Werkstatttage" im Burgtheater in Wien mit Kathrin Röggla als Tutorin.
2012: Dramatikerstipendium des bmuKK für "Käfersucht"
2012: Ausgewählt für das Screening des Zebra Poesiefilm Festivals
2012: Buchprämie des BmuKK für "flug (spuren)"
2013: Gewinnerin bei "Nah dran"- Förderung von Kindertheaterstücken
2013: Literaturstipendium der Stadt Graz.
2013: KUNO-Essaypreis für "Referenzuniversum"
2014: Lime- Lab- Förderpreis
2014: Nominierung für den Berliner Hörspielpreis
2015: Einladung zu den Theatertagen Heidelberg mit "Anna und der Wulian"
2015: Einladung zum Festival "Luaga & Losna" mit "Anna und der Wulian"
2015: Arbeitsstipendium des bka für "angekettet" mit Petra Ganglbauer
2015 Finalistin des Goldegg- Book- Slams 2015
2015: Proketstipendium des BKA
2015: Arbeitsstipendium für Mexiko
2015: Buchprämie des BKA für "nachkommen:nacktkommen"
2016: Sonderpreis 2. Platz beim Wiener Werkstattpreis
2016: Nominierung für den burgenländischen Buchpreis 3mal7 mit "Simon und die Zitterschrecke"
2016: Arbeitsstipendium des BKA für den Roman "Adelhaid"
2016: Jurorin des Lyrikpreises München
2016: Tutorin beim Masterclass- Stipendium der AssiteJ Wien
2017: 2 Arbeitsstipendien des BKA für "Performanz und Biomacht - ein Essay" und für "Martha" (Roman)
2017: Award of Excellency für die Dissertation "Performanz und Biomacht"
2017: Werkzuschuss des Jubiläumsfonds der Litera- Mechana
2017: Nominierung auf der Hotlist der besten Independent- Verlage der Frankfurter Buchmesse für "Schildkrötentage"
2017: Werkzuschuss für die Dissertation Performanz und Biomacht von der Stadt Graz
2017: Werkzuschuss für den Text "Käfersucht" von der Stadt Graz
2017: Werkzuschuss für den Text "Queen of the Biomacht!" von der Stadt Graz
2018: Stipendiatin des Literarischen Colloquium Berlin
2018: Förderung der Stadt Graz für den Roman "Adelhaid"
2018: Alternativer NAHBELL-Lyriknobelpreis für Unbestechlichkeit und Zeitgeistresistenz im lyrischen Gesamtwerkprozess
09. NAHBELLFRAGE
Ich empfinde Dich als akribische Beobachterin der Wirklichkeit, die sich in menschliche Stimmungen reinzoomt und wieder rauszoomt, das Mikrokosmische sezierend und dabei ins große Ganze einbettend. Würdest Du Dich auch als politische oder gesellschaftskritische Dichterin bezeichnen? Gibt es einen "engagierten" Impuls in Deinem Werk? Sind Andeutungen von Weltproblemen wie die Formulierung "radioaktive Ortlosigkeit" in Deinem Beitrag für das Forum (Poesiesalon.de) des Offlyrikfestivals eher typisch oder Ausnahmen? Welche Themen beschäftigen Dich am meisten in Deiner Lyrik? Gibt es da eine einheitliche Linie, die sich über die Jahre weiterentwickelt, oder fließen Deine Gedanken eher spontan in alle Richtungen? Würdest Du Dich überhaupt in eine germanistische Kategorie einordnen lassen?
09. NAHBELLANTWORT
Ich sehe mich auf jeden Fall als eine, die gesellschaftskritisch arbeitet. Stets geht es um Transformation und die Veränderung von Ist-Zuständen; mir ist beides wichtig: tagesaktuelle Formulierungen (radioaktive Ortlosigkeit) sollen da neben archaischen Bildern und Gefühlen (Liebe, Rache, Verzweiflung...) Platz haben. Was Lyrik betrifft, so beschäftigen mich Klang und Form am meisten, ich bin da thematisch nicht fixiert. Formal gesehen arbeite ich gerne mit Serien. Während die Gedanken eher spontan fließen, ist die mathematisch-musikalische Bauweise eine, die immer Gegenstand der Texte ist. Von germanistischen Kategorien allerdings versteh ich wenig ;-) , das "Labeling" sollen doch die anderen machen, finde ich...
10. NAHBELLFRAGE
Trotzdem verwendest Du das germanistische Label "experimentelle Literatur". Was bedeutet denn "experimentell" für Dich? Welche Deiner Gedichte sind tatsächlich experimentell und warum? Da Du Wert auf Klang und Sound legst, wundert mich, bei Dir keine "Soundpoetry" (dieses Label kenne ich selber erst durch Thomas Havlik) oder "Lautdichtung" (wie in Hugo Balls Dadagedichten) im engeren Sinne zu finden. Was ist der typische "Sophiesound" und wo ist er exemplarisch zu finden?
10. NAHBELLANTWORT
Ja, leider ist "Labeling" in unserer Welt offenbar etwas, das die Menschen dringend brauchen. Für mich ist experimentelle Literatur eine, die sich einerseits auf die Traditionen der Moderne und Postmoderne beruft, und andererseits versucht, Neuland zu entdecken. Ich sehe mich in gewisser Weise schon auch als Soundpoetin; denn Henri Chopin war ein wichtiger Lehrer für mich - nur hole ich, im Sinne der Post-Postmoderne, das Spiel mit Bedeutung und Inhalt wieder hinein... Ich glaube, einen typischen Sound habe ich nicht, es ist eher eine Entwicklung, ein Prozess - Texte sind ja immer Geflechte aus Zitaten. Was sich durchzieht, ist allein die Liebe zum Klang.
11. NAHBELLFRAGE
Dann habe ich eigentlich nur noch eine letzte Frage an Dich, obwohl mir vieles durch unser Gespräch angeregt durch den Kopf schwirrt: wie geht es bei Dir literarisch weiter? Welche Pläne hast Du für die nahe und ferne Zukunft? Und was würdest Du tun, wenn wir irgendwann endlich einen Sponsor für den Nahbellpreis fänden, so daß ich zumindest schonmal einen gewissen Anteil an alle Preisträger ausschütten könnte?
11. NAHBELLANTWORT
Hui, wie es weitergeht... schreiben, schreiben, schreiben, viel lesen... Ein Forschungsprojekt zum Thema "Märchen und Heldenreisen" an der PH Niederösterreich steht an - ich bin ja auch "Doktorin" und immer wieder an der Universität tätig... Ansonsten sind meine Pläne, da weiter zu machen, wo ich bin - mich mit der Materie befassen, die mich glücklich macht... Im Moment steht die Analyse von Stefan Zweig und etwas Prosa für Kinder an... Wahrscheinlich würde ich mit mehr Geld einfach in die Natur fahren und es für Bücher ausgeben - und für gutes Essen...
12. NAHBELLFRAGE
Mir brennt doch noch eine Frage auf der Seele: wie viele Gedichtbände hast Du bis jetzt publiziert? Kannst Du mir eine vollständige chronologische Liste mit Titeln, Verlagen, Erscheinungsjahr liefern? Sind alle über Amazon lieferbar oder gab/gibt es auch selbstverlegte Kleinstauflagen ohne ISBN oder Hefte in irgendwelchen "Underground"-Kleinverlagen, die vergriffen sind?
12. NAHBELLANTWORT
Zwölf sind es, alle mit ISBN und immer zwischen 200 und 1000 Auflage, wobei "die gezirpte zeit" schon ausverkauft ist - lustiger Weise das Buch mit der größten Auflage ;)
2005: "geh dichte", EYE- Verlag, Tirol
2010: "binnen (miniaturen)", Leykam, Graz
2010: "Skarabäen", Art& Science
2012: "flug (spuren)", Edition Keiper, Graz
2012: "die gezirpte zeit", Berger Verlag, Horn
2014: "Wortspielhalle, eine Sprechpartitur", Edition Das Labor, Mülheim
2015: "nachkommen: nacktkommen", hochroth, Wien
2016: "Vögel", mit Petrus Akkordeon, Corvenius Presse, Berlin
2016: "P.Rosa", Hör-CD, Edition Zeitzoo
2017: "schnee schlafen", Löcker- Verlag, Wien
2017: "Im Monat der Seidenraupe", Lex Lieszt
2018: "Ab:scheide", Feribord
13. NAHBELLFRAGE
Hast Du nie in Kleinstverlagen mitgemacht, die früher gerne leicht romantisierend als "Undergroundliteratur" bezeichnet wurden? Und was ist mit Literaturzeitschriften? Wurdest Du in welchen publiziert und Dein Bekanntheitsgrad dadurch mitbewirkt?
13. NAHBELLANTWORT
Nein, leider... Was Zeitschriften betrifft: Ich bin in der Redaktion der Lichtungen und des Podium, die Arbeit dort lieb ich sehr!
WEBSITE: www.SOPHIEREYER.com
2019: Das G&GN-Institut nimmt Abschied vom 9.Nahbellpreisträger ~ NACHRUF auf Peter Rech 21.5.1943 - 5.12.2019
2020: Das G&GN-Institut bedauert das Ende des Portals FIXPOETRY ~ NACHRUF auf das Engagement von Julietta Fix
2022: Erstmals wird der Nahbell-NEBENPREIS "für den unerwarteten Essay" vergeben - Hintergrund zur EINFÜHRUNG siehe 2021
2023: Das G&GN-Institut kuratiert die Düsseldorfer Lesung "POESIEPANDEMIE: LYRIK LEBT WEITER!" -
LIVE & CLOSE am 12.
Mai
"Ich bin der reichste Mann der Welt! // Meine silbernen Yachten / schwimmen auf allen Meeren. // Goldne Villen glitzern durch meine Wälder in Japan, / in himmelhohen Alpenseeen spiegeln sich meine Schlösser, / auf tausend Inseln hängen meine purpurnen Gärten. // Ich beachte sie kaum. // An ihren aus Bronze gewundenen Schlangengittern / geh ich vorbei, / über meine Diamantgruben / lass ich die Lämmer grasen. // Die Sonne scheint, / ein Vogel singt, / ich bücke mich / und pflücke eine kleine Wiesenblume. // Und plötzlich weiss ich: ich bin der ärmste Bettler! // Ein Nichts ist meine ganze Herrlichkeit / vor diesem Thautropfen, / der in der Sonne funkelt." Arno Holz (1863-1929)
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