10. NAHBELLPREIS 2009: Karl-Johannes Vogt


 

"Wem niemals ahnend / Letztes Wissen offenbar / den treibt kein Genius, kein Gott

/ . . . / doch auch du bist Stufe wie jene großen Geister aus Antike und Neuzeit /

und müsstest Stufe um Stufe erklimmen / um aus ihren Asservaten das Dasein zu erfahren; / . . ."

K-H. Vogt, Auszug aus: LETZTES GEDICHT (2012)

 

OFF-izielle G&GN-Pressemeldung am 21.6.2009

Karl-Johannes Vogt wurde am 29.10.1919 geboren und lebt schon seit langem in Jülich (zwischen Aachen und Köln), wo es inzwischen auch einen "echten" Nobelpreisträger (der Physik) gibt. Heinrich Böll schrieb Vogt einst, daß ihn seine Gedichte sehr berühren und er weiter dichten solle. Vogt hielt diesen persönlichen Brief sein Leben lang geheim, wie es sich eben für private Post gehört - und wurde bis heute nicht veröffentlicht... Heute am 21.6.2009 wird "dem unbekannten Dichter" Karl-Johannes Vogt nun durch das G&GN-Institut der 10. NAHBELL-Preis für dessen "lebenslängliche zeitgeistresistente" Produktivität zuerkannt. Außerdem erscheinen im Herbst 2009 beim G&GN-Verlag 14 ausgewählte Gedichte aus den Manuskripten "MOMENTE" I+II unter dem Titel "DAS FLUGZEUG ÜBER MIR WECKT KEINE SEHNSUCHT" in der Edition naHbell als Vogts allererster Lyrik-Einzelband. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gab es vor einigen Jahren ein Hörspiel. Ein Roman ist vom Autor auch lieferbar. Wir gratulieren heute schon zum 90. Geburtstag, denn "Hans" Vogt befindet sich JETZT in seinem neunzigsten Lebensjahr und verstrahlt die Ruhe und Grazie dieser Gegenwartsbewußtheit seiner Dichtung "wie nebenbei" genau so auch im Gespräch!

 

HOMO MECHANIKUS


Bekenne nie

Dass dich eine Blume entzückt

Ein Bach

Ein Vogel

Ein Mensch oder ein Wort

Die Weisheit des Lebens

Findest du mühelos

In den Graffitis

Der eisernen Pissoirs

In den dunstigen Städten

Und die Faszination des Lebens

Ist nicht im Gedicht

Sondern im mechanischen Prinzip

Und in der Erregung

Die aufwallt

Wenn der Held

Aber auch der Feigling stirbt

Im blutigen Mix

Aus Sex und Crime

Wie damals die Gladiatoren

In den römischen Arenen

 

 

HAB MITLEID

 

Hab Mitleid mit der Magnolie

Die der Sturm beutelt

Hab Mitleid mit der Tanne

Die unter der Schneelast ächzt

Hab Mitleid mit dem Kind

Das im Kaufhaus stiehlt

Hab Mitleid mit dem Politiker

Der scheinheilig bekennt

Mea culpa Mea maxima culpa

Hab Mitleid mit dem Piloten

Der Hiroshima bombte

Der Vietnam zerbombte

Hab Mitleid mit dem Staatsmann

Der sich und seine Taten preist

Denn ihm gehört das Wollwollen

Der Herde

Hab Mitleid mit dem Bombenleger

Der sein Gewissen atomisiert

Hab auch Mitleid mit dir selbst

Denn du bist Magnolie und Tanne

In einer Person

 

VON DER BARBAREI

ZUR ZIVILISATION

BEDARF ES EINES JAHRHUNDERTS

VON DER ZIVILISATION ZUR BARBAREI

JEDOCH NUR EINES TAGES

 



N A C H R U F

Am Abend des 18.6.2013 verstarb unser geschätzter Dichterkollege Hans Vogt im Alter von 93 Jahren. Das G&GN-Institut trauert um den Freund aus der Jülicher Heimat und Senior der Nahbellpreisträger. Sein letztes Gedicht gleicht einem Resümee seiner Sicht auf die zivilisatorischen Möglichkeiten des Menschen zur Selbsterkenntnis, er feilte daran noch ein Jahr zuvor und trug es uns bei Besuchen mit seiner pathetisch-sachlichen Expressivität Zeile für Zeile auswendig vor. Dabei verströmte seine ruhige Stimme eine bescheidene und dennoch bestimmende kühle Wortmagie. Öffentlich wollte er seine Lyrik nicht selbst vorlesen, hielt seine Stimme für nicht geeignet, doch in jüngeren Jahren kam der engste Freundeskreis in den Genuss von Kurzgeschichten und Auszügen aus seinen Romanen bei regelmäßigen Wohnzimmer-Lesungen. Als er dann im Jahre seines 90sten Geburtstages 2009 den 10.Jubiläums-Nahbellpreis gewann, war er trotz des hohen Alters ein Newcomer in der Lyrikszene, denn seine Gedichte waren bis dato noch nie veröffentlicht worden, obwohl ihm sogar Nobelpreisträger Heinrich Böll in einem persönlichen Brief schon Jahrzehnte früher seine Wertschätzung ausgesprochen hatte. Die einzige öffentliche Performance ausgewählter Gedichte von Karl-Johannes Vogt fand in seiner Anwesenheit zum Auftakt der Poesieschlacht am Weltpoesietag 2010 im Düsseldorfer zakk statt, Rezitator war sein Herausgeber Tom de Toys vom G&GN-Verlag. Über sich selbst sagt Vogt: "Ich bin am schönsten Ort der Welt geboren, in einem romantischen Dörfchen, fernab der großen Städte. Als ich Jahre später die Vorteile von gepflasterten Straßen, das Angenehme einer Wasserleitung und einer Wasserklo-Spülung erkannte, blieb – trotz des Erstaunens – doch der romantische Nimbus meines Geburtsortes erhalten. Er war durch die Märchen-Erzählungen meiner Mutter und durch die Neugier erweckenden Berichte meines Vaters über das Sonnensystem und das Weltall für alle Zeiten gefestigt. Selbst der viel gepriesene, gewaltige Kölner Dom war in meinem kleinen Schädel zwar bewundernswert, aber im Vergleich zu unserer kleinen Kirche nur ein unübersichtliches Gebäude, denn im Leben dieser Kirche war, selbst wenn sie leer war, noch ein wunderbarer Summton, wie nach dem dröhnenden Te Deum der Orgel. All dies hat mich geprägt, hat Träume ausgelöst und Neugier auf das Leben geweckt."

 

UTOPIE

 

Ich stelle unser Bett

In den Mondschein

Auf eine Brücke aus Licht

Die über den Strom führt

Der keinen Ursprung hat und kein Ziel

Auf eine Brücke

Aus Licht

Ohne Hin- und Herweg

 


Interview mit JÜLICHER NACHRICHTEN als Kritik an der "Generation Gag"

VOLLSTÄNDIGER NACHDRUCK! Anläßlich des "Autorenportraits" der Jülicher Nachrichten am 8.9.2009 über den in Jülich lebenden 10. Nahbellpreisträger KARL-JOHANNES VOGT stellte die Lokalredakteurin Saskia Zimmer am 21.8.2009 folgende EMAIL-Fragen an Tom de Toys, dessen Antworten AUS BERLIN hier in Originallänge zu lesen sind...

 

1. Was genau ist der Nahbell-Preis?

Der sogenannte Nahbellpreis (zusammengesetzt aus Nähe, Gebell und Nabel) ist ein Literaturpreis für deutschsprachige zeitgenössische Lyrik, der einmal im Jahr (am 21. Juni) an LEBENDE DichterInnen vergeben wird und dieses Jahr zum zehnten Mal einem mehr oder weniger unbekannten Autor höchsten Respekt zollt.

 

2. Wie entstand die Idee dazu, seit wann gibt es ihn?

Aufgrund der wachsenden Kritik am traditionellen Nobelpreis wurde der Nahbellpreis im Jahre 2000 ins Leben gerufen und wird von der Trademark "POEMiE" idealistisch gefördert. Bis heute konnte leider kein Preisgeld ausgezahlt werden, da sich noch keine Großsponsoren fanden, die diese visionäre Notwendigkeit nachvollziehen. Die Gewinner erhalten nur eine symbolische Urkunde, aber seit neuestem ergibt sich ab und zu sogar die Möglichkeit, eine kleine Publikation in enger Zusammenarbeit mit dem Gewinner herauszugeben.

 

3. Wer sind die Köpfe, Institutionen dahinter?

Hinter dem Nahbellpreis steckt das G&GN-Institut (die Abkürzung steht für "Ganz & GarNix"), das 1990 von mir persönlich in Köln gegründet wurde und seit 2005 vom Berliner Bezirk Neukölln aus agiert. Phasenweise ist das Institut mit seinem angegliederten Kleinstverlag ein 1-Mann-Betrieb, dann wieder bilden befreundete Kollegen temporär eigene Filialen für gezielte Projekte.

 

4. Was muss man tun, um den Nahbell-Preis zu bekommen, welche Leistung zeichnet der Preis aus?

Der Nahbellpreis würdigt Lebenswerke und öffentliches Engagement solcher Poeten, die ansonsten in Vergessenheit zu geraten drohen oder im laufenden Literaturbetrieb zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Gemäß dem Urkundentext sind lebenslängliche Unbestechlichkeit sowie stilistische Zeitgeistresistenz ausschlaggebend, um unser Interesse zu wecken. Es gibt keine Altersbeschränkung, zumal bei manchen jungen Dichtern bereits ein ausgeprägter Hang zum originell "Eigenweltlerischen" und zu künstlerischer Souveränität auszumachen ist, so daß der Preis durchaus auch auf deren hoffnungsvolle Zukunft als "Ausnahmeliteraten" verweist.

 

5. Wie kamen Sie auf Hans Vogt?

Karl-Johannes Vogt kennt mich bereits als kleinen Jungen (ich bin ein Jülicher!), da meine Eltern das Glück haben, zu seinem Freundeskreis zu zählen. Leider war ich damals noch zu jung und selber kein Dichter, als seine Wohnzimmer-Lesungen regelmäßig stattfanden. Erst auf dem Begräbnis meiner Oma mütterlicherseits nahmen wir uns 1992 als Kollegen gegenseitig wahr: Ich hatte damals ein eigenes Gedicht zur Beerdigung vorgetragen. Vor einer Weile schenkte er mir dann ein Exemplar seines bisher einzigen veröffentlichten Romans ["Die Zeit ohne Träume", 2004], den ich bis heute nicht vollständig gelesen habe, da ich mich mit Prosa allgemein sehr schwer tue. Aber: Genau dadurch wurde meine Neugier umso mehr geweckt, seine zahlreichen unveröffentlichten Gedichte zu lesen, und so nutzte ich jeden Besuch bei meinen Eltern, um einen kostbaren literarischen Nachmittag bei ihm zu verbringen. Letztes Jahr habe ich ihn dann bei diversen Beratern des Instituts als Anwärter für den Preis vorgeschlagen und stieß durchweg auf positive Resonanz. Auch die anderen bisherigen Preisträger zeigten sich hocherfreut über die Wahl!

 

6. Für welche Werke hat Hans Vogt den Preis bekommen?

Ausschließlich für sein umfassendes lyrisches Schaffen, wobei ja bislang kein einziges Gedicht veröffentlicht war! Aber das ändert sich nun: Im Herbst erscheint seine allererste Einzelveröffentlichung mit 14 ausgewählten Gedichten pünktlich zu seinem 90. Geburtstag im Institutsverlag. Und ein Folgeband mit einer anderen Auswahl, nämlich mit des Dichters eigenen Lieblingstexten, schwant uns bereits als Ergänzung vor. Die nötigen Mittel (Zeit, Geld und Personal) für eine Gesamtwerkausgabe stehen dem G&GN seit unserer Insolvenz 2005 leider nicht zur Verfügung.

 

7. Was zeichnet diese Werke aus? Was ist das besondere daran?

Das Besondere an Vogts poetischen Miniaturen ist deren erstaunlich ruhiger und tiefer Blick auf die kostbare Wirklichkeit des alltäglichen Lebens: Ganz gleich ob er über seine Erfahrungen mit der Liebe philosophiert oder das absurde Weltgeschehen oder die Natur aus der Nähe betrachtet, immer schwingt da eine sehr starke Bewußtheit der Hingabe an die Gegenwärtigkeit UND Vergänglichkeit des "absoluten Augenblicks" mit, vergleichbar mit der Beschreibung von Realität in Zengedichten. Dadurch sind seine Texte hochkonzentriert und wirken trotzdem wie beiläufig notiert - das ist für mein Empfinden einfach genial! Außerdem leistet sein Werk damit sowohl unter seelischen als auch soziologischen Gesichtspunkten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis einer Zivilisation, die immer oberflächlicher und schnelllebiger wird. Das spirituelle Bedürfnis nach "innerer Mitte" und dem "Ankommen im Jetzt" wächst zwar glücklicherweise wieder in der Bevölkerung, spiegelt sich allerdings im etablierten Literaturbetrieb ebenso ungenügend wider wie in der Politik.

 

8. Wann werden diese Werke veröffentlicht und in welcher Form?

Der G&GN-Verlag arbeitet quasi als Vorläufer des "books on demand"-Verfahrens seit 20 Jahren programmatisch "ISBN-frei" und auf "Copy-Art"-Basis, so daß unsere Publikate (meist kleine kopierte und getackerte Hefte im Taschenformat) nur über Direktbestellung, auf Büchertischen bei unseren Lesungen, und über ausgewählte Buchhandlungen mit schwer erhältlichem Sortiment lieferbar sind. Und natürlich auf Anfrage signierte Exemplare bei den Autoren unseres Verlages persönlich! Wir gehören damit zu einer traditionsreichen Bewegung, die man gern als "Underground"- oder "Alternativ"-Literatur bezeichnet, und die seit der Beatliteratur der 50er Jahre prominente Vertreter hervorgebracht hat, aber deren Wurzeln bis zu den dadaistischen 20er-Jahren zurückreichen. Dank Internet sind wir heutzutage natürlich leichter zu finden und freuen uns über jedes Interesse. Schauen Sie doch einfach mal unter POESIEPREIS.de oder bei mir als Herausgeber im Institut vorbei: www.G-GN.de - bis dahin: Helaaf aus Neukölle!!! :-)))

 

 

*Anm. zum Begriff "GENERATION GAG": Mit Generation "Gag" wird hier angespielt auf das zwanghafte (und meist lichtlose) verkopfte Konstruieren von kryptischen Metaphern, die der Celanschen "Tradition" nacheifern wollen, darüberhinaus aber versuchen, dem oberflächlichen Ernst ein humoreskes oder prätenziös "zeitgeistiges" Sahnehäubchen aufzusetzen, was beim geübten Lyrik-Leser allerdings nicht die zumeist postpubertäre Inhaltslosigkeit zu verschleiern vermag. PERMANENT SKANDALÖS ist daran, daß der "etablierte" Literaturbetrieb noch immer nicht aus diesem Billigdornröschenschlaf erwacht ist und dadurch die Seelenlosigkeit (nicht zu verwechseln mit der FREIHEIT der Seele!) subventioniert anstatt das BEDÜRFNIS VIELER "NORMALER" LESER (querbeet aus Berufszweigen wie z.B. Ärzten, Anwälten, Therapeuten, Fachverkäufern, Handwerkern und Supermarktkassierern) nach unverschlüsseltem Tiefgang zu befriedigen. DAS ergaben Umfragen im privaten Umfeld des G&GN-Instituts und mögen hier vielleicht ungerecht provokativ wirken, dürfen deshalb aber nicht ungenannt bleiben. DISKUTIERT wird darüber sowieso nicht wirklich, da jeder im Betrieb gern Chefschäfer spielt und selbst das Trockene sucht, notfalls sogar die Herde (sprich: das authentische Bemühen um "wahre" Poesie aus "innerer Notwendigkeit") im Stich lässt, sofern es sich überhaupt noch um echte Tiere und kein Plastikspielzeug handelt. Manch ein inzwischen bundesweit "berühmter" Jungdichter (mittleren Alters) outet sich deshalb auch unter Alkoholeinfluss schonmal mit zynisch verklärtem Blick als sogenannter "Berufslyriker". Namen zu nennen würde hier allerdings bloß deren Bedeutung unnötig aufblasen, solange des Kaisers neue Kleider noch nicht aus allen Nähten platzen (man möge sich das kybernetisch wie beim Börsencrash vorstellen: der verdrängte Tag kommt irgendwann SEHR plötzlich, und danach werden sowohl der POETISCHE SPRACHSCHATZ an sich als auch die verklüngelten Betriebsregeln völlig neu geordnet)… [Anm. Sebastian Nutzlos]