ZURÜCK ZUM PRESSE-ARTIKEL ÜBER ALLE 3 JUBILÄUMSPREISTRÄGER 2019
Thomas Havlik, geb. 1978 in Scheibbs, NÖ, lebt und arbeitet in Wien. Mitglied u.a. der "GAV - Grazer AutorInnen Versammlung". Autor, arbeitet an den Grenzen zwischen Sound- Visual- und Performancepoetry. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, Text- und Audioanthologien sowie im Rundfunk. 2015 erscheint seine neue Soundpoetry CD, 2016 sein erster umfangreicher Lyrikband. Beschäftigung mit den Dadaisten, Surrealisten, Futuristen. Auseinandersetzung mit der Wiener Gruppe und ihrer Sicht auf die Sprache als Material. In weiterer Folge fasziniert von den künstlerischen Möglichkeiten der elektroakustischen Bearbeitung von Sprache, erste Audioarbeiten, Henri Chopin, Jaap Blonk und die Lettristen. Seither Versuch eines eigenen Zugangs, der Poetiken des Raums, des Lichts, der Bewegung verbindet. Schwerpunkt auf Soundpoetry, Performance und Radioarbeiten im Kontrast zum herkömmlichen Schreiben... co-editor des Soundpoetry online Magazins www.Huellkurven.net, dedicated to sound poetry, poésie sonore, lautpoesie, noise poetry, sound-text composition, auditive poesie, audio poetry etc. Zuletzt u. a. Gewinner des Ö1-Lyrikwettbewerbs "Hautnah" 2013, Projektstipendium für Literatur 2014/15, BMUKK Auf der Bühne verbindet er Live-Bearbeitungen der eigenen Stimme mit vorbereitetem, elektroakustisch bearbeitetem Sprachmaterial, Mikropartikeln aus Buchstaben, Buchstabenketten, Phonemen sowie Text- und Klangausschnitten – mit Lyrik-Rezitation und Bewegung im Raum, kreiert Bereiche erweiterter Interpretation, Sprachen des Unterbewusstseins – und...
WEITERFÜHRENDE INFOS IM PROGRAMM DES 3.OFFLYRIKFESTIVALS
Mit "durch / through" liegt nun 2019 nach "Minenfeld unserer Träume" (BoD, 2002) und dem Booklet zur Lautpoesie-CD "syllablesshooter – 30 milliarden silben", die 2015 bei zeitzoo in Wien in der Reihe audiobeans produziert wurde, die nächste Buchpublikation vor. Erschienen ist sie in der engagierten Bristoler Edition Hesterglock Press, die Sarer Scotthorne & Paul Hawkins (Bob Modem) 2013 als Plattform für experimentelle/innovative Poesie gründeten.
01. NAHBELLFRAGE
Thomas, ich gratuliere Dir sehr herzlich am heutigen 21.6.2019 zum 20. Jubiläumsnahbellpreis! Ich werde nie vergessen, wie ich Dich 2009 in Wien kennenlernte: Das war bei Deiner
ekstatischen Lyrikperformance in der Alten Schmiede, wo Du zwischen den Publikumsstühlen tänzelnd stimmakrobatisch die Weite des Weltalls und seine Sterne beschworen hast, jedenfalls so meine
Erinnerung! Deine Stimme intonierte den für mich kaum verständlichen österreichischen Dialekt wie rituellen Gesang, Deine schauspielerischen, leicht gruselig anmutenden Gesten und der gesamte
Körpereinsatz wirkten fast schon schamanisch hypnotisierend. Und Deine Ausstrahlung war voll von Liebe und Hingabe - Hingabe ans Thema, an die Sprache und auch eine Hingabe ans Publikum, eine
Hinwendung an das kollektive Du, dem Du Deine verschwurbelten Wortketten wie Glitter hingestäubt hast. Und ich spürte das Leuchten dieses Wortglitters in meinen Nerven... das war
Gänsehautliveliteratur pur! Wann hast Du diese Form des Vortrags entwickelt? Hast Du ein Naturtalent oder vorher zunächst "normale" langweilige Wasserglaslesungen im anständigen Sitzen am Tisch
gemacht? Oder begann alles bei Dir von Anfang an mit solch expressiven Rezitationen?
01. NAHBELLANTWORT
Lieber Tom, ich glaube, mitentscheidend für die Entwicklung meiner Sprachperformances, wie sie heute sind, waren zwei Dinge: einerseits wollte ich Lyrik schon immer vortragen, wie ein Zenmeister ein Sutra rezitiert: das klappernde Gebiss und den schlackernden Kehlkopf 10 Zentimeter vor meinem Gesicht, damit ich ihn sehen kann, während ich spreche, oder, besser gesagt, mindestens 20 Zentimeter. Eine möglichst große Unmittelbarkeit zwischen Künstler und Rezipient wollte ich erreichen, die Entgrenzung bis hin zu körperlicher Erfahrbarkeit von Poesie voran treiben, die dabei stattfindet und die bei gedruckten Texten nur schwer möglich ist: Mittel und Wege zu erschließen, um dem nahe zu kommen, hat mich schon immer interessiert. Andererseits habe ich live schon früh mit dem Einsatz von Sounds begonnen, um damit eine zusätzliche Brücke zum Publikum zu etablieren, zuerst in Form einer Zusammenarbeit mit elektronischen Musikern, später dann - bis heute - mit selbst hergestellten Audioarbeiten, elektronischer Lautpoesie, Soundpoetry, akustischen Irritationen usw. Ich glaube, eine Auseinandersetzung mit Soundpoetry kann natürlich auch heute noch zu bemerkenswerten, höchst individuellen Arbeiten führen, deren Ziel nicht primär ein Sichtbarmachen auditiver Qualitäten ist, sondern die völlig selbstverständlich mit der Sprache als Material umgehen und dadurch Ausdruck komplett eigenständiger akustischer Poetiken sein können. Soundpoetry im Sinne von "vorsprachlicher Äußerung der Körper", sozusagen eines "Gesprochenwerdens der eigenen Person", ist darüber hinaus nach wie vor ein großer, ganz natürlicher Bestandteil vieler zeitgenössischer Performances und Tanzproduktionen, auch in der modernen Musik. Davon unabhängig habe ich grundsätzlich natürlich auch nichts gegen "Wasserglaslesungen". Welches Format ich wähle, hängt letztlich vom Veranstaltungsrahmen und Ort ab.
02. NAHBELLFRAGE
Eignen sich denn all Deine Gedichte für beides, Wasserglaslesung UND wilde Performance? Kannst Du zwei repräsentative Gedichtbeispiele anführen, die sich jeweils für die eine oder andere Präsentationsform besser eignen? Empfindest Du den Live-Vortrag grundsätzlich als vorteilhafter für Deine Lyrik als die gedruckte Version zum stillen Lesen?
02. NAHBELLANTWORT
Ich empfinde generell den Live-Vortrag von egal welcher Lyrik vorteilhafter, als sie gedruckt vor mir zu sehen. Ob da jetzt ein Glas Wasser in der Nähe des Rezitators steht, oder ein Bier, ist erstmal völlig egal. Es geht mir mehr um Dinge wie Körperspannung, Kraft und Präsenz in der Stimme und ihr Vermögen, den Raum auszufüllen bis zur hintersten gegenüberliegenden Ecke, dass die Wörter nicht zerplatzen wie Seifenblasen, bevor sie den Zuhörer in der ersten Reihe erreichen. Schlaffe sitzende Körper sind aus der Sicht von Performancekünstlern vorsichtig ausgedrückt "nicht besonders ideal." Wenn ich den "Raum ausfüllen" sage, meine ich aber nicht zwingend "Lautstärke", man kann auch flüsternd in alle Winkel und Ecken vordringen. Ich meine auch nicht, dass man alles "auswendig lernen muss" und auf gar keinen Fall, dass es mir um Strategien der Publikumsbefriedung geht, dass man es unbedingt zum Schmunzeln bringen muss oder so, um es zu berühren. Ich bin definitiv kein Poetry Slammer. Dennoch halte ich das Mikrophon zum Beispiel für des Vortragenden besten Freund. Viel wäre gewonnen, wenn man Autoren ganz selbstverständlich anbieten würde, im Stehen zu lesen beziehungsweise wenn der Live-Vortrag als eine zur eigentlichen Textproduktion zusammengehöriger, genauso wichtiger Teil der Kunstform, die man ausübt, betrachtet werden würde undsoweiter – was zugleich natürlich ausschließlich von der inneren Haltung des Autors selbst abhängt; denn niemand verlangt von ihm, dass er "gut lesen" kann oder sich auch nur Gedanken über die vielfältigen intermedialen Möglichkeiten macht, die uns heutzutage zur Verfügung stehen. Schlecht vorgetragene Gedichte oder Texte ähneln meiner Meinung nach aber dennoch mehr irgendwelchen Produktpräsentationen als einem "Live-Erlebnis" welcher Art auch immer, Veranstaltungen, bei denen man nicht unbedingt etwas versäumt, wenn man nicht dabei ist. Das alles ist nicht neu. Seit mindestens hundert Jahren machen sich Poeten Gedanken darüber – oder eben nicht. Die einen glauben, sie "schreiben weniger" und dass es auf Kosten ihres Werkes geht, wenn sie von Festival zu Festival reisen und sich mit den Möglichkeiten der Bühne auseinandersetzen, die anderen sprechen zum Beispiel Mitschnitten unwiederholbarer Performances allerhöchsten Werkcharakter zu. Ich persönlich sehe mich eher zweiterer Gruppe zugehörig, unabhängig von "Wasserglas" oder "Performance". Je experimenteller bzw. lautpoetischer der Text, umso mehr verlangt er danach, gehört anstatt gelesen zu werden, finde ich. Eigene Textbeispiele, die sich vorwärts tasten bis zur "absoluten Poetry-outside-the-book" wären: Gedicht "Oxi" oder das – vornotierte – Lautgedicht "D, taumur b, z labe B"
Oxi
Sächlich aus Haut gehupt haupt
Gründlich gehopst Europa-her die Sperr
-ung, spreng
Überall: spreng, Speer-Serien-Spr
Eng; Wort
Spange zur Mundsenke, Woll
Kugel im Rachen, Fäden aus Sp
Rache der General Bauinspektor
Speer-Sphäre, Spr
Eng, spreng Apolo
Getische Sppäaärrrrrrrrrr
-ung: Berg
Aus Glocks, Burg aus Elektroschrott Pa!
Rallaxe hier am Strand hier am schönen
Gelben Strand vor dem Meer aus Zähnen pla
-niert your towel getaktet Schau
Plätze Kopf Kobane Sirte Paris, Land
Zugang dies Atem
Zug: gräbst hard Filmwitz, liest im Tang
Maul um
-geknickten -geschriebenen Stahl
Trägertriggers; Krug
Kreissäge-L-Flug, spätes Nacht
Bizz, Buisnessstiebiz
Vorm Scheppern aus Zähnen
Bizz im Eisen-Inneren
RUMMS -augens
-ohrens RUMMS –augens
-ohrens RUMMSschau
Tafeln unbedarfter Dental
Praxis, das Tangmaul
Das Tangmaul, schleimige
Schlieren hellgrüner
Schrift: "oxi. - OXI."
Und der Bonustrack auf dem Digital-Album-Release "Vocology #3: Voices of Babel / Babel of Voices", erschienen als "Gratwanderung zwischen Linguistik, Literatur und Spoken Word"
im von Martin Schmidt herausgegebenen Augsburger Label Atemwerft: "Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist zu hören – gelesen in Constructed Languages, so genannten Conlangs, also modernen,
künstlich entworfenen Sprachen. Sprachenschöpfer aus Vietnam, USA, Südafrika und Europa übersetzten den biblischen Babeltext Genesis 11, Vers 1–9 in ihre Conlang - und fungierten auch selbst als
Sprecher." =
D, taumur b, z labe B
Und d Zange: derE/Ä tahte
neie rape-Sch! -
Lei-Niere, rote W
Und s haschge.
s Haschge sl eis chan gozen.
ad faden N: s ene bEnee m dealn –
Saiern N onthwene: ad selbst
Und s schrenpa reine muz, randeen. Onl-Wah? - Tals, sst
n´s geZiel, schreiten n! - rath beren-nn, n
s geziel dein-te hinne sal n-Site, n´s
HD-Ezrar dein-te hinne sal Mörtel
Und s schrenpa: onl-Wah! anbeu w, anbeu r s ee dat-St!
Dat-St! u ee mur-T essend zeit-Sp a-den emil-Hm eriche
u hamcen w u ei e mean-N
ss-ad: w chint zurtet ser wrd br d g-z eder!
Und vah-Jeo fr hrndr, d tat-Sd u dn Trm z he-n
wheel-c
d Mnschn: n riked, n eu bat
Und vah-Jeo schrap: he-eiS, s nd n lok-V u: n beha ll n Schrape
u ds beha-n sss gegangen fan zzz tn u
nn dr w nine h - n
chts ver ehrt w, erden w, w ss e z t – ers, innen
onl-Wah, la ns hernieder ah-fner u re rape-Sch!
ad ss- belt rev rein wr d d d ssss n d
edn arne rape-Sch nnnn, rev-ente hs!
Man kann Taumur noch immer lesen, wird aber, glaube ich, noch mehr Lustgewinn haben, wenn man weiß, welche Überlegungen dem Text zugrunde liegen und es als Audioarbeit hört. Als drittes möchte
ich gerne "DöKeBa" als Beispiel für eine rein akustisch "erfahrbare Literatur" anführen, die als Teil der ersten
Ausgabe des Online-Soundpoetry-Magazins Huellkurven.net erschienen ist. Das Material von "DöKeBa Zündschnur" besteht aus einer Auswahl aus dem Syllables-Shooter, einer Sammlung aus
Silben und Phonemen, die im Zuge des Digital-Arts-Produzentenfestivals Schmiede Hallein 2012 von insgesamt 18 Personen in 5 unterschiedlichen Sprachen eingesprochen und von mir aufgenommen
wurden. Dieses Stück besteht aus den akustischen Fingerabdrücken von Michael F. Schreiber, Caroline Wimmer, Nils Medina sowie Jean-Baptiste Béchu. Aufgrund ihrer klanglichen Eigenschaften
ausgewählte Sprachpartikel bilden Lautgruppen und werden durch das Zusammenwirken beispielsweise der Silben "st(e)" und "-ige" zu auditiven Irritationsinseln, die von
Hörsituation zu Hörsituation anders entweder als die Aufforderung: "steige!", das Substantiv "Stiege" oder als bloße kompositorische Klänge wahrgenommen werden können.
Unterschiedlich lange, in verschiedenen Geschwindigkeiten abgespielte Silbenketten erzeugen Rhythmen, während die phonografisch nicht mehr ohne weiteres (re)notierbare Stimme, die an laut- bzw.
ethnopoetische Traditionen erinnert, für den spielerischen Auflösungsversuch der Grenze zwischen dem steht, was mit Schriftzeichen ausgedrückt werden kann, und was nicht, zwischen Subjekt und
Unterbewußtsein, Gedicht und Rezipient.
03. NAHBELLFRAGE
Hast du Eltern, die Verständnis für Deine Kunst haben, oder wollten sie verhindern, daß Du solche merkwürdigen Ambitionen vorweist? Wann hast Du Dich überhaupt als experimenteller Dichter "geoutet" und wie wurde das von Deinem privaten Umfeld aufgenommen?
03. NAHBELLANTWORT
Ich habe und hatte das Glück, sehr verständnisvolle Eltern zu haben, wenn auch, wie ich glaube, "Autor" wenn schon nicht sicherer, zumindest ein wenig "ungefährlicher" als zum Beispiel Punkmusiker oder Strassenkünstler klingen mag. "Experimenteller Dichter" (Idendität! Identität!) wiederum ist eine Zuschreibung, die sich erst im Laufe der Zeit ergeben hat. Das habe ich mir nicht vorgenommen und hängt wahrscheinlich mit meiner Neigung zu kurzen Formen und transmedialen Arbeitsweisen zusammen, die mir ein freieres Arbeiten ermöglichen, als das ausschließliche Leben hinter dem Schreibtisch. Vielleicht ändert sich das mit dem Alter und ich beginne doch noch, ganz in einem meiner unvollendeten Romanmanuskripte aufzugehen, die ich, wie wohl die meisten Dichter, irgendwo unter Nachlass-Bergen noch immer aufbewahre.
04. NAHBELLFRAGE
Man wird ja heutzutage förmlich erschlagen vom moralischen Politdruck, der allerorts den Alltag überschattet: Klimawandel, Bienensterben, Flüchtlingswellen, Fridays for Future - die Massenmedien suggerieren wieder eine ähnliche Hysterie wie zuletzt in den 80ern, als uns Tschernobyl aus der privaten Trance aufschreckte. Damals war das Gemüse radioaktiv verseucht, während man heute im Lyrikbetrieb nur noch von verseuchter Gemüsedichtung spricht: Lyrik, die zwar (angeblich) formal einwandfrei funktioniert, aber inhaltlich nichts Relevantes zu sagen hätte. Sogar das Mainstream-Hauptthema "Bienen" taucht verkaufsstrategisch in der sogenannten Kanonliteratur auf, ohne irgendwie ökologisch oder politisch motiviert zu sein, sondern nur schöngeistig dekadent um sich selbst kreisend. Inwiefern sollte Politik und Weltproblematik in der Kunst auftauchen? Hast Du unter "experimentellen" Gesichtspunkten eine "l'art pour l'art"-Haltung oder fließen die großen gesellschaftlichen Skandale in Deine Werke irgendwie ein? Oder ist diese Frage vielleicht völlig falsch gestellt und die poetische Realität hat ganz andere Argumente?
04. NAHBELLANTWORT
Politische Lyrik? - Ichpistole! Wenn ich die Augen schließe und in mich hineinhöre, nehme ich wahr: ich bin von den Zehen bis zum Kopf durchströmt von Sprache, einer Sprache, die ich nicht selbst erfunden habe, die aber dennoch meine Wirklichkeit bestimmt. Bin ich dem manipulativen Einsatz politischer Rede oder Schein-Bedürfnisse triggernder Werbung ausgesetzt, ist das, als würde eine fremde Macht Botenstoffe eines Gifts in mich einspritzen, das unterbewusste Signale überträgt, gegen die mir zum Beispiel Lautpoesie oder sprachexperimentelle visuelle Arbeiten ein wirksames Gegenmittel zu sein scheinen. Womit ließe sich auch sonst am besten dagegen angehen, als durch einen möglichst radikalen Griff ins Unterbewußtsein? Ich glaube, indem ich mich selbst fortlaufend sozusagen "aktualisiere", verändere ich potenziell auch die Wahrnehmungssituation von anderen, die damit, mit meinen Werken, in Berührung kommen. Viel zu oft kommt ein Text oder ein Gespräch, in dem es um "Sprachkunst" geht, nicht ohne ein Wiederkäuen der historischen Avantgarden aus, und es wird zum Beispiel betont, sie seien unter anderem eine Reaktion auf die beiden Weltkriege gewesen: das mag schon stimmen, doch Beweggründe, ebenso den auf uns im gegenwärtigen postliterarischen Emoji-Zeitalter einprasselnden Botschaften und Informationen mit einer zarten Grundskepsis zu begegnen, gibt es meiner Meinung nach genug, um den verschiedenen Techniken so genannter experimenteller Literatur auch heute Relevanz zuzusprechen. "Echt Arsch" ist zum Beispiel ein Anagramm von "HC Strache", einem bekannten österreichischen rechtsradikalen Populisten: etwas in der Art herauszustreichen und damit zu spielen, bereitet mir großen Lustgewinn und Freude. Eine andere tiefere Auseinandersetzung mit einem konkreten politischen Thema stellt zum Beispiel die Videoarbeit "Krpf" dar, die vor ungefähr drei Jahren zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise während eines Artist-in Residency-Aufenthalts in Griechenland entstand und deren Audiomaterial aus Politikerreden von Varoufakis, Merkel, Obama und Putin besteht: Ich glaube, die allermeisten meiner transmedialen Arbeiten beinhalten im Kern ein mehr oder weniger politisches Element – und sei es ihre Flüchtigkeit, die sich sträubt gegen das allzu Gefällige und Vermarktbare.
05. NAHBELLFRAGE
Hast Du eine (live-)literarische Vision, wo sich Dein Werk hinentwickeln soll, stilistisch oder thematisch? Möchtest Du etwas bestimmtes bis zum Tod erreichen/erschaffen? Gibt es ein übergeordnetes (z.B. lebensphilosophisches) Konzept in Deinem Ansatz, dem Du folgst - oder sind auch die Themen so flüchtig wie ihre performative Umsetzung?
05. NAHBELLANTWORT
Ich möchte gerne einen Teil dazu beitragen, transmediale Live-Poetiken, die auf den ersten Blick vielleicht mehr im Performancebereich als im so genannten Literaturbetrieb angesiedelt sind, als literarisches Genre sichtbar zu machen. Mir kommt vor, in der jüngeren deutschsprachigen Lyrikszene ist eine Art neuer Lust an der Bühne im entstehen, die keine Berührungsängste mit anderen Kunstformen wie Musik, Performance, Tanz oder Malerei kennt, keine Scheu vor dem Experiment hat und damit einhergehend, wenigstens zum Teil, auch einen gewissen Willen zum Risiko mitbringt, der meiner Meinung nach ganz wichtig ist. Es sollte mehr Maler oder Tänzer geben, die literarisches Schreiben für die Bühne unterrichten. Da gäbe es, glaube ich, freie Nischen, die besetzt werden wollen. Um sich weiter zu entwickeln, scheint es, greifen die Performancepoeten ja bis heute am liebsten, oder besser gesagt: gezwungenermassen auf den inspirativen Austausch mit KollegInnen zurück, was zugleich Fluch oder Segen sein kann. Je länger der eigene Atem, umso besser lernt man auf jeden Fall auch die anderen kennen, die einen ähnlichen Weg gehen. KollegInnen, andere Dichter, Autoren und Künstler, mit denen man eine respektvolle Vertrauensbasis verbindet, sind wertvoll, um nicht betriebsblind zu werden; Kritik an sich selbst zulassen zu können, generell gesagt, sowie die Fähigkeit, sich für andere freuen zu können, wenn sie zum Beispiel ein neues Buch oder ein gelungenes Stück veröffentlichen, scheinen mir davon unabhängig auch im Umgang mit allen anderen, der Mehrheit also, die keine Kunst macht, förderungswürdige Eigenschaften zu sein. Voilá, ich stelle fest: ein gewisses Naheverhältnis zum Fluxus und seinen konzeptuellen Grundlagen kann ich nicht leugnen, eine Nähe zum Prozesshaften und der Einbindung des eigenen Lebens in den Schaffensprozess. Je länger ich "nicht ganz einzuordnen bin" und mich gewissermassen "konsequent neben der Spur" bewege, umso mehr schält sich aus der vermeintlichen Unfähigkeit, irgendeine bestimmte Art Karriereplan zu verfolgen, eine Haltung und eigenständige Position heraus, die ich mir selbst nicht hundertprozentig erklären kann. Ich habe verschiedene abendfüllende Programme, ein Repertoire, auf das ich zurückgreifen und das ich jederzeit aufführen kann, verschiedene andere schweben mir vor. Einen Agenten hätte ich gerne, der mir regelmäßig Tourneen organisiert. Und mehr Werkanteile, die in physischer Form vorliegen, sei es als Buch, CD oder DVD, daran arbeite ich. Erst im Frühling ist in der HesterglockPress in Bristol mein neues Buch "durch/through" erschienen, wobei ich mich sehr darüber gefreut habe, überhaupt einen Verleger dafür gefunden zu haben, da es mit seinen 160 Seiten voller visueller Poesie, Schriftzeichnungen und Partituren mehr Künstler- als Textbuch geworden ist. Auf der Homepage des Wiener Literaturhauses ist dazu eine ausführliche Rezension erschienen, die ich interessant finde und zum Schluss gerne anfügen möchte.
06. NAHBELLFRAGE
Da muss ich nochmal ganz explizit nachhaken: hast du inhaltlich bestimmte Lieblingsthemen? Wie findest du deine Themen, wodurch kommen sie zustande? Möchtest du irgendwelche Inhalte unbedingt vermittelt wissen? Inhalte, die dir auf der Seele brennen?
06. NAHBELLANTWORT
Ein einziges "großes Thema", an dem ich mich bewusst ein Leben lang abarbeite, kann ich nicht identifizieren. Im Gegenteil möchte ich es sogar vermeiden, literarisch allzu vorschlagshammermäßige Inhalte wie "böser Trump" oder "Teufel Kapitalismus" vor mir herzutragen. Trotzdem habe ich eine eindeutig linke Haltung gegenüber den meisten gesellschaftlich-relevanten Themen. Ich glaube nur, je subtiler die Kritik an egal was verpackt ist, umso stärker kann sie sich entfalten... Auf lautpoetischer Ebene wären die Inhalte, die mich interessieren und die mich begleiten, alle Ebenen der Tücken und Mißverständnisse zwischenmenschlicher Kommunikation, zwischen Individuen, zwischen Menschen und Institutionen, zwischen Ländern. Worte können ja nie alles beschreiben, oder genügen, denn auch die Worte, nicht nur ihre Interpretation, verändern sich permanent. Wie ich – oder jemand anderer – sage, was ich sage, verändert die Bedeutung, die beim Empfänger der Information ankommt usw.: Vielleicht sind meine sprachexperimentellen Werke eine einzige Meditation über die Spuren, die menschliche Kommunkation hinterlässt, über das "große Aha", das man nicht einfangen kann. Denke ich an meine Prosaprojekte, die ich wie gesagt ja nicht aufgegeben habe, nur aufgeschoben bis zu dem Moment, an dem der Poet sich zum Sabbatical entschliesst (wann auch immer das sein mag), kommen mir eher dystopische Inhalte in den Sinn. Zukunftsforschung bzw. was wäre, wenn die verschiedenen Technologien ein bisschen weiter wären, wenn die Realität ein kleines Stückchen weitergedreht werden würde, welche Auswirkungen das auf unseren Alltag, unser Leben, unsere Beziehungen untereinander hätte, interessiert mich sehr.
07. NAHBELLFRAGE
Dann komme ich jetzt zu meiner letzten Frage: was für eine Bedeutung haben generell Literaturpreise für Dich und für den österreichischen Lyrikbetrieb - und welche Relevanz haben sie überhaupt für das Prestige (und die praktischen Möglichkeiten) eines Autors in Österreich? Glaubst Du, der Nahbellpreis wird eher als Satire (was er ja de facto nur zu 50% ist!) oder gar unseriöser Scherz empfunden, oder genügt die bei anderen Preisen übliche Taktik des Namedroppings bisheriger Preisträger (wie z.B. Sophie Reyer), um automatisch Respekt zu erzeugen?
07. NAHBELLANTWORT
Natürlich bedeuten Literaturpreise eine Form von Anerkennung, die einem, gerade in jungen Jahren, in psychischer und finanzieller Form hilft. Ohne irgendeine Form zumindest kleinen finanziellen Einkommens geht es nicht, die wenigsten können vom Verkauf ihrer Bücher leben, viele fühlen sich auf Bühnen nicht besonders wohl oder schaffen es aus quasi-anarchistischer Haltung heraus nicht, sich "ordentlich zu vermarkten". Die meisten Künstler, die ich kenne und schätze, stehen dabei den so genannten Vermarktungsmechanismen jeglicher Art eher argwöhnisch bis "feindlich" gegenüber, das hat irgendwie mit ihrem ureigenen psychologischen Kern sowie dem vielleicht übersteigerten Wunsch nach einem klaren Blick auf die Welt, die sie umgibt und beschäftigt, zu tun. So ein mehr oder weniger namhafter Preis in der Biographie kann aber helfen, an Auftritte oder Publikationsmöglichkeiten zu gelangen, so viel steht fest – und führt wahrscheinlich auch in nicht wenigen Fällen zum Auslösen einer Wirkungskette im Sinne von "ein Preis, eine Publikation in einer 'renommierten Literaturzeitschrift', führt zum/zur nächsten". Gerade am Beginn des ersten Auftretens und Publizierens überkommt einen da leicht die Phantasie, wenn ich da oder dort von dieser oder jener Jury nicht genommen werde, dann... "dann gibt´s das nicht!" Irgendwann kommt man darauf, das gibt es sehr wohl, und nicht nur das, in vielen Fällen scheinen es obendrein auch nur die reinsten Zufälle zu sein, die entscheiden. Wenn man einmal selbst in der Jury einer noch so kleinen Literaturzeitschrift eines noch so kleinen Wettbewerbs war und das ganze sozusagen aus anderer Perspektive erlebt hat, relativiert sich so manches. Viel hängt vom persönlichen Umfeld ab, in dem man sich bewegt und das man sich im Laufe der Zeit aufbaut. Es ist eine permanente Gratwanderung zwischen: "Nehme ich mich zu viel oder zu wenig wichtig angesichts der gähnenden Unendlichkeit, mit der man jeden Tag als Dichter konfrontiert ist und in deren Angesicht alles andere verblasst." Ich bin kein Freund der Annahme, dass Literaturpreise "schädlich sind" und dass das Fördersystem, das aufzubauen sich unsere Gesellschaft irgendwann entschlossen hat, bloß dazu führt, dass jeder Idiot uninspirierte Bücher schreibt, die keiner braucht und keiner liest. Sprache erzeugt und zeigt auf unsere Umwelt, es spricht für sie, die Gesellschaft, die Arbeit an ihren Feinheiten zu unterstützen. Vielleicht braucht nicht jedes Dorf im hintersten Winkel einen eigenen "Marktschreiber", dessen Konzeption danach riecht, als ginge es mehr um ein "Marketing der Region" als um die Förderung der Autorinnen, und es mag darüberhinaus auch viele Verbesserungsmöglichkeiten hinsichtlich der Infrastruktur wie zum Beispiel der Eignung für die Anreise mit Kindern geben, aber dennoch finde ich, es sollte mehr anstatt weniger Aufenthaltsstipendien und Literaturpreise geben. Insbesondere solche, die tolles weirdes sprachkritisches Zeug unterstützen, das ansonsten nicht entstehen könnte. Über die Zuerkennung des 20ten Nahbellpreises freue ich mich jedenfalls sehr und ich möchte Dir und dem Institut für Ganz & GarNix dafür noch einmal explizit in herzlicher Verbundheit danken: "Danke, lieber Tom de Toys!"
2019: Das G&GN-Institut nimmt Abschied vom 9.Nahbellpreisträger ~ NACHRUF auf Peter Rech 21.5.1943 - 5.12.2019
2020: Das G&GN-Institut bedauert das Ende des Portals FIXPOETRY ~ NACHRUF auf das Engagement von Julietta Fix
2022: Erstmals wird der Nahbell-NEBENPREIS "für den unerwarteten Essay" vergeben - Hintergrund zur EINFÜHRUNG siehe 2021
2023: Das G&GN-Institut kuratiert die Düsseldorfer Lesung "POESIEPANDEMIE: LYRIK LEBT WEITER!" -
LIVE & CLOSE am 12.
Mai
"Ich bin der reichste Mann der Welt! // Meine silbernen Yachten / schwimmen auf allen Meeren. // Goldne Villen glitzern durch meine Wälder in Japan, / in himmelhohen Alpenseeen spiegeln sich meine Schlösser, / auf tausend Inseln hängen meine purpurnen Gärten. // Ich beachte sie kaum. // An ihren aus Bronze gewundenen Schlangengittern / geh ich vorbei, / über meine Diamantgruben / lass ich die Lämmer grasen. // Die Sonne scheint, / ein Vogel singt, / ich bücke mich / und pflücke eine kleine Wiesenblume. // Und plötzlich weiss ich: ich bin der ärmste Bettler! // Ein Nichts ist meine ganze Herrlichkeit / vor diesem Thautropfen, / der in der Sonne funkelt." Arno Holz (1863-1929)
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