19. NAHBELLPREIS 2018: Tanja "Lulu" Play Nerd


No Nobel, dafür wird der Nahbellpreis gleich zweimal verliehen. 2018 erhalten ihn zwei Lyrikerinnen, die aus Österreich und der Schweiz stammen. Es handelt sich dabei um Sophie Reyer. Wie sich zeigt, kommt Reyer derzeit für jeden Preis in Frage, und falls sie weiterhin so fleißig ist, kommt sie eines Tages vielleicht sogar für den Literaturnobelpreis in Frage. Die zweite Autorin dürfte noch nicht den Bekanntheitsgrad der ersteren haben, wenngleich sie – ähnlich wie Rupi Kaur mit ihren Instagram-Lyrix – zulegt. Kaur liefert jedoch ein opulentes Bouquet von Belanglosigkeiten. Diese Texte sind in ihrer lapislazuligetränkten Entrücktheit so herzerfrischend flach, daß die überreichlich geäusserten Plattitüden unter dem Schaumrücken selbst einer drittklassigen Auslegeware akrobatische Übungen vollführen könnten. Die ehemalige Slam-Performerin Tanja "Lulu" Play Nerd (das Pseudonym ist eine Parodie auf die zwangsoriginelle Pop-Artistin Tanja Playner) dagegen versucht sich als eine stets aufmerksame, faszinierende, persönlich engagierte und zugleich kritische Beobachterin und Chronistin. Es ist jene Sehnsucht nach Gewissheit, die sich durch eine sprachliche Hingabe ausdrückt, die weder seicht noch geistlos wirken soll, sondern im Gegenteil – KUNO ist der Ansicht: gedankliche Tiefe ist in der literarischen Gattung Lyrik zu finden. Ihr Band "Leb Jetzt!" ist eine Parabel über die vergebliche Suche nach dem Sinn in einer zerrissenen Welt. In ihren Texten versucht die Autorin der – von dem unermüdlichen Sloganizer Samuel Lépo so benannte – Generation Overchill immer wieder gesellschaftliche Mißstände aufzuzeigen. Zwischen den Zeilen scheint die Krise des kapitalistischen Subjekts auf, die Totalität dieser Ersatzreligion prägt die Subjekte mehr als alles andere. Die Autorin versucht einen Lebensinn zu finden, ist aber viel zu ehrlich, als daß sie sich mit teleologischer Sinngebung trösten oder ihre Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode richten könnte. Sie versucht dem Leser das Leben und Denken anderer Gesellschaftsschichten nahezubringen. Ihr übergreifendes Thema ist die Korrumpierbarkeit in einer von Kommerz und Totalitarismus geprägten Gesellschaft. Ein Plädoyer für die Unangepasstheit.
Kuno Kloetzer, in: Alternativer Literaturnobelpreis an Maryse Condé (KUNO – EDITION DAS LABOR, 9.12.2018)

 

19.Nahbell-Interview mit TANJA "LULU" PLAY NERD (geb. 3.2.1982 )

"Renaissance der engagierten Emotionalität gegen die neue Generation Overchill"

 

01. NAHBELLFRAGE

Liebe Lulu, in diesem Jahr fällt der Nobelpreis für Literatur wegen all der Skandale aus bzw. wird auf das nächste Jahr verschoben. Der Nahbellpreis dagegen wird dieses Jahr erstmals an ZWEI ausgewählte Dichterinnen vergeben, die noch dazu beide aus Österreich stammen. Ich bin froh darüber, endlich wieder einmal Frauen unter den Kandidaten gehabt zu haben, aber eine Entscheidung zwischen den beiden Finalisten war letztlich unmöglich und da voriges Jahr der angebliche Frauenmangel in der Lyrikszene wiedermal durch die deutsche Presse ging, erschien es nur sinnvoll, den Preis feminin zu verdoppeln, um mit Euch beiden stellvertretend zu zeigen, daß dieser scheinbare Frauenmangel von denselben Medien mitverantwortet wird, die ihn beklagen; denn kritische originelle Dichterinnen gibt es sehr wohl, aber sie werden genauso oft und gern von der Presse ignoriert wie auch die wirklich interessanten Männer der Lyrikszene, die keine preisgekrönte Gemüsedichtung verfassen. Nun bist Du im Gegensatz zu Deiner etablierten Mitgewinnerin Sophie Reyer mit ihren unzähligen Publikationen noch eine Newcomerin im Bereich "seriöse Lyrik", aber trotzdem keine echte Nachwuchsautorin, obwohl Du noch immer recht jung bist; denn Du warst bereits vor Deinem diesjährigen Debutband "LEB JETZT" eine nicht unbekannte Slamdichterin im deutschsprachigen Raum. Jedenfalls behauptest Du das in Deiner Biografie. Stimmt Dein Lebenslauf überhaupt oder ist er Bestandteil Deines gesamten Kunstprojektes, das ja Deiner Angabe nach als Persiflage auf eine russisch-österreichische Hochstaplerin im Kunstbetrieb begann?

 

01. NAHBELLANTWORT

mein lebenslauf ist tatsächlich ein mix aus tatsächlichen schicksalsschlägen und fakenews, da ich mich damals beim ausstieg aus der slamszene dazu entschied, anonym weiterzumachen. in wahrheit wurde ich in zürich in der schweiz geboren und musste daher viel komödiantisches schwiezerdütsch auf den slambühnen ertragen. meine beiträge waren dagegen fast ausnahmslos hochdeutsch oder sogar englisch und ich hatte ganz guten erfolg beim publikum, aber nur selten bei der jury. allerdings wurden die witzigen spaßtexte meist eher belohnt als wirklich "seriöse" poesien mit anspruchsvolleren wortspielen, die zu schwierig zu verstehen waren, wenn sie nur einmal spontan im ambiente eines slams gehört wurden. darum hatte ich auch die lust am auftreten irgendwann satt und wollte nochmal von vorne beginnen. aber wenn du schon in der szene dein fett weg hast, würdest du mit seriösen gedichten nicht ernst genommen werden oder vielleicht nur bejubelt, weil sie dich eh lieben, ohne die sachen zu verstehen. also riskierte ich meinen literarischen neuanfang unter pseudonym. und es machte mir wirklich mut, ziemlich schnell von dir für den poesiesalon und von fixpoetry angenommen/aufgenommen zu werden. zu dem zeitpunkt war mein debutband noch gar nicht vollendet. und dass der dann gleich zum nahbellpreis geführt hat, macht mich fast sprachlos vor glück, ehrlich! es ist mir egal, dass meine ehmaligen slamfans davon kaum notiz nehmen – sie würden die texte doch eh nicht interessieren: humorlose weltanalyse mit zu romantischer sehnsucht nach einflussnahme aufs gesellschaftliche geschehen! ich denke, die würden mich jetzt irgendwie peinlich und langweilig finden. und ich hätte auch keinen bock irgendwo ein gespräch zu belauschen nach dem motto: hast du schon mitgekriegt, tanja macht jetzt auf lyrikerin...

 

02. NAHBELLFRAGE

Also von "humorloser Weltanalyse" kann man bei Deiner Emojikunst kaum sprechen; denn die ist wirklich extrem bissig, zynisch und mit vielen humoresken Details gespickt! Aber daß ein gewisses Maß an "romantischer Sehnsucht" in Deinen Gedichten nicht zeitgemäß sei oder speziell Slampublikum vergraulen könnte, irritiert mich schon: ich habe schon oft gerade junge Slamer(innen) gehört, die ihren Frust über die Welt rauslassen und damit gut ankommen. Mir scheint sogar, daß seit einigen Jahren vorallem der richtige Mix aus obszöner Comedy und zynischer Politik genau das ist, was die Leute wertschätzen. Ich meine, diesen Mix auch aus Deinen Gedichten herauszulesen. Und gerade weil Du diesem lebensphilosophischen Zynismus noch Deine ehrliche, emotionale Sehnsucht nach einer besseren Welt überstülpst, wird doch daraus "echte" Lyrik, oder nicht? Eine "Einflussnahme aufs gesellschaftliche Geschehen" ist damit allerdings wohl ebenso unwahrscheinlich wie live on stage beim Poetryslam. Wer liest Deine Gedichte und wen oder was können sie eigentlich beeinflussen?

 

02. NAHBELLANTWORT

das ist eine gute frage... kein plan... vielleicht liest sie gar keiner. ich meine: es gibt so viele lyriken im internet, auch bei fixpoetry bist du in einem labyrinthischen archiv aus unterschiedlichsten stilen. im grunde ist doch die poesie heutzutage genauso ein megapestizidvergifteter supermarkt wie die politik: alles ist völlig tabulos erlaubt, aber nichts hat eine auswirkung auf wirklich schreckliche weltprobleme! mag sein, daß auch ich zu obszöner comedy neige, das kam eben immer am besten an, aber mir liegt wesentlich mehr an dem, was du "ehrlich emotional" nennst: eine gewisse literarische renaissance der engagierten emotionalität, ohne sentimental oder fanatisch zu werden, sondern auf einem seismografischen seelischen level "berührt", wie du es in deiner netten rezension auf amazon über meinen gedichtband LEB JETZT schon geschrieben hast. daher mach ich auch viel mehr aktionistisch bei allen möglichen projekten mit, die sich nicht einfach mit trumptypen abfinden, sondern ganz klassisch demonstrieren, petitionen signieren und events veranstalten, um das volk aufzuklären. das hat noch dazu einen schönen nebeneffekt: du kommst raus und mit netten menschen zusammen, ein stückweit echtes leben wird dadurch hinzugewonnen oder zurückgewonnen, das ich in unseren städten so lange vermisst habe. das hohle bumbum-partyleben in zürich, berlin und wien ging mir total auf den senkel, die leute sind immer nur drauf und dadurch total unerreichbar für stille gespräche über tiefere sorgen, und die vielgepriesene kreativwirtschaft besteht nur aus yuppies und losern, während die wirklich spannenden menschen, die in der politik mitmischen müssten, deine normalen nachbarn sind, die schon vor langer zeit das handtuch geworfen haben. ganz ehrlich, ich könnte den ganzen tag schreien, wenn ich mir all diesen weltwahnsinn nicht ab und zu von der niere schreiben täte! und wenn ich nur mit einem einzigen kleinen gedicht irgendwo jemanden retten oder ein arschloch therapieren könnte, ich wäre die glücklichste schriftstellerin auf der welt!

 

03. NAHBELLFRAGE

Wow, da spricht die Revoluzzerin in Dir! RoN Schmidt würde dem wohl entgegenhalten "die Welt ist schon gerettet", aber vielleicht widerspricht sich das gar nicht, sondern ergänzt sich: Du hast ja in Deinem Auftaktmanifest, das damals zur Wahl des deutschen Bundestages kursierte, schon angedeutet, daß es Dir nicht um Programme geht, sondern um den "lebendigen Alltag", der hier und jetzt stattfindet. Ist das eine neue Art von Spiritualität, die uns seit Eckhart Tolle zur Beruhigung der Nerven verklickert wird, um in erleuchteter innerer Balance für nichts mehr Partei zu ergreifen, sondern nur noch hypnotisch gechillt zu bleiben? Du gehörst mit Deinem sozialkritischen Impuls ja nun wirklich nicht zur neuen Generation "Overchill"! Da verbindet sich in Deinen Texten doch irgendwie beides miteinander: das stille Angekommensein mit der lautstarken Aufgeregtheit? Ist DAS vielleicht das wirklich Neue an Deinem "engagierten" Stil? Und könnte genau das nicht auch bei Slams gute Wirkung erzielen: der leise Gong mit dem lauten Gaga vereint in der Performance?

 

03. NAHBELLANTWORT

also ich denke auf jeden fall, daß sich die allerjüngste "generation overchill" durch die handy-ära entwickelt hat: alles wird über den minimonitor kommuniziert und konsumiert, und das perverse daran: selbst die spiritualität wird über apps konsumiert! yogaapp, meditationsapp, spiritualbookapp: alles kommt dir digital ins haus, niemand braucht dafür in echt mehr raus! auch politik lässt sich per mausklick erledigen: petitionen werden per touchscreen signiert. touchscreen against torture! aber es hat auch einige vorteile: das bürokratische blabla geht leichter und schneller, so daß ich schon auf dem weg zu einem meeting das drumherum abgearbeitet habe und über den stand der dinge informiert bin. ich genieße es zum beispiel extrem, vom strand aus den tag vorzuplanen, um danach entspannt mit den schildkröten zu tauchen, bis es so weit ist. hawaii ist ja nicht nur aus psychotherapeutischen gründen balsam für diese panik in meinem havarierten herz, die ich im grunde nur durch natur und liebe besänftigt bekomme, sondern hawaii birgt auch eine vielzahl an organisationen, die von amerika rüberschwappen, hier ableger aufbauen, und wir so einiges an ideen beitragen, die vielleicht nur hier am strand ganz gechillt geboren werden können. wie auch meine gedichte. ich brauche den abstand zur zivilisation, um sie dadurch umso gestochener vor dem inneren auge zu analysieren und "anzugreifen". ob sich da gaga und gong so vereinen, daß es auch slamtauglich wäre, müsste ich erstmal testen. aber prinzipiell sind die gedichte doch eher zum lesen für sich alleine gedacht. als säße der leser auch an einem verwunschenen paradiesstrand und schaute hoch in den himmel auf einen nahenden planeten wie in lars von triers melancholia...

 

04. NAHBELLFRAGE

Was hast Du denn seit der Publikation von LEB JETZT neues geschrieben? Der Gedichtband endet am Weltfrauentag vor über zwei Monaten und ich sehe in letzter Zeit nur noch Emojikunst auf Deinen Accounts und die Nachrichten über den Vulkanausbruch, den Du sogar künstlerisch kommentiert hast. Ist denn schon ein Gedicht über den Kilauea entstanden, das weder unpolitische Naturmystik noch apokalyptische Panikmache transportiert? Ich stelle mir Dich gerade als Reporterin in Reimen vor...

 

04. NAHBELLANTWORT

als reporterin empfinde ich mich nun nicht grad, das wäre genau die veraltete engagierte politlyrik, die morgen schon hinfällig ist, wenn das thema vom tisch ist, weil sich kein geld mehr damit machen lässt. andy warhols kritik an der 5-minuten-ruhm-gesellschaft greift leider auch bei all den dramatischen szenarios, die uns die medien ins haus liefern: kein arsch interessiert sich für opfer, wenn das spektakel vorbei ist! das eigentliche leiden beginnt im alleingelassen werden mit den schmerzen und langfristigen narben. die medien lassen uns prompt im stich, wenn ein noch "schöneres" und "gruseligeres" spektakel irgendwo anders beginnt; denn die einschaltquoten sind das, was die lava glühen lässt! die revolution wird auch aus diesem grunde nicht nur vom fernsehen nicht übertragen (wie gil scott-heron es sang) geschweige denn gemacht, sondern die revolution ist prinzipiell etwas anderes, als das, was konsumiert und kommuniziert wird: revolution geschieht erst im handwerklichen prozess hinter den kulissen. ein neues bilinguales gedicht vom 21. mai mag das beleuchten. den vulkanausbruch habe ich darin nur dezent verewigt:

 

world revolution day

 

cultural diversity

does not develop

any longer in

chained brains but

just in architecture

our lava mind burns

a hole thru infinite

hearts that cannot

reflect anywhere

so they start talking

truth to each other

 

weltrevolutionstag

 

kulturelle vielfalt

entwickelt sich nicht

mehr in verketteten

köpfen sondern nur

noch als architektur

unsere gedankenlava

brennt ein loch durch

unendliche herzen

die sich nirgendwo

spiegeln so daß sie

beginnen miteinander

wahrhaftig zu sprechen

 

05. NAHBELLFRAGE

Dein neues Gedicht empfinde ich als ein schönes Beispiel für die sensible Synthese aus Engagement und Emotionalität! Glaubst Du, Dein Ansatz hat ein Alleinstellungsmerkmal oder kennst du andere Dichterinnen, die in eine ähnliche Richtung arbeiten, um Politik in die Lyrik miteinzubeziehen, ohne zu anachronistischem Agitprop zu führen?

 

05. NAHBELLANTWORT

agitprop war ja eher eine kommunistische formel und ich bin sowieso absolut kein anhänger von ismen. vor vielen jahren habe ich alles verschlungen, was sich von claire goll heutzutage noch (meist antiquarisch) beziehen lässt: tagebuch, prosa, lyrik, egal. auch das liebesgedichte-hinundher mit ivan goll ist tief und poetisch und nicht kitschig trotz der bemüht wirkenden metaphern, aber für heutige zeiten ist dieses drumherumreden ein wenig zu blumig, allerdings keineswegs "hermetisch", wie so manche bieder-blümerante gemüsedichtung, und liest sich daher noch immer viel progressiver als das zeitgenössische preisträgerzeug der altbackenen "generation von jetzt". ich bin mittlerweile defnitiv großer fan von safiye can und melamar, die beide sehr starke emotionale und engagierte lyrikerinnen sind. lütfiye güzel finde ich auch hochspannend, aber ich kenne sie erst durch deinen poesiesalon und den artikel von gerrit wustmann über die fehlende frauenpower in der szene. ich sollte von ihr unbedingt noch mehr lesen, aber es ist ziemlich schwer, an ihre bücher zu kommen...

 

06. NAHBELLFRAGE

Was würdest du denn mit der Preissumme machen, wenn ich sie ausschütten könnte? Hast du konkrete Zukunftspläne, die mit Hawaii oder einer Zeit nach Hawaii zusammenhängen? Oder bleibst Du dort und tauchst immer tiefer in die politischen Aktivitäten ein?

 

06. NAHBELLANTWORT

schwierig zu sagen. ich mag das spezielle lebensgefühl und die hier geborenen menschen. ich bin ja keineswegs zum allerersten mal hier, sondern kenne verschiedene stellen auf allen inseln von früher, weil meine eltern hier freunde haben. mein vater wohnt seit einiger zeit auch wieder selber hier, weil er in unserem letzten gemeinsamen urlaub eine wundervolle neue lebenspartnerin kennengelernt hat, eine einheimische, mit der ich mich so gut verstehe, daß ich überhaupt kein problem habe, sie als eine art stiefmutter oder eher sogar ältere freundin zu akzeptieren. und ich bin einfach gerne in der nähe meines vaters, er wird ja auch nicht jünger. vielleicht brauche ich auch eine gewisse zeit, um von der subtilen schwermut wieder ganz wegzukommen, die mich letztes jahr überkam, als ich das manifest schrieb. ich fühle mich ein wenig orientierungslos und muss mit den möglichkeiten experimentieren, die sich von einem tag auf den anderen durch die zufälligen begegnungen ergeben. das preisgeld würde ich höchstwahrscheinlich für eine größere wohnung mit freiem blick auf den strand investieren und dann dort schreibseminare anbieten und die verstreuten freunde aus aller welt einladen, zu mir zu ziehen, um einfach zu leben, bis sich kreative impulse aus einem freien lebensgefühl ableiten. wenn geld da ist, fängt der mensch ja erst an, frei zu denken, ohne den ökonomischen druck, diese unmenschliche belastung, die uns von allen regierungen auf der welt angetan wird, die auf unsere kosten gut leben, aber uns totarbeiten lassen. ich könnte gar nicht genug geld haben, um damit soziale projekte zu unterstützen und selber voll durchzustarten! es ist doch zum kotzen, wie viel geld überall in den falschen händen gebündelt wird, ohne die welt zu... retten oder zumindest zu heilen! sagen wir heilen! nennen wir es doch ein bisschen esoterisch im sinne der gaia-idee einer "mutter erde", warum auch nicht! dieser planet ist doch unsere einzige heimat und wenn überall lava aus ihr hervorströmt, sieht es fast aus, als blute die mutter! der planet hat seine periode! er brodelt und glüht und spuckt seine organe aus! es ist ein würgen und quetschen, ein aufplatzen und spritzen, ein tarantinofilm ist da harmlos dagegen! ich weiß nicht, tom. so viel sehnsucht und so viele utopien, so viele gescheiterte menschheitsentwürfe nach so vielen jahrtausenden zivilisationsgeschichte und so viele vollkoffer, die sich präsidenten nennen, aber nur elitäre narzistische abzocker sind - kein geld der welt wird diesen virus der dummheit, der totalen verblödung auf der obersten etage ausmerzen (außer vielleicht eine architektonisch erweiterte merzkunst, die einfach an den idioten vorbeibaut?), die präsidenten wachsen immer wieder nach, weil ihre konzerne auch weitermachen... und was das "weitermachen" betrifft, hat uns ja schon rolf dieter brinkmann genug wahrheit eingebleut. sein radikaler ekel und diese sehnsucht nach intensivem leben gemischt mit thomas bernhards bitteren preisreden: ja, das ist auch in mein herz eingeflossen. aber ob das in meinen gedichten zu spüren ist: keine ahnung...

 

07. NAHBELLFRAGE

Und was ist mit Deiner Emojikunst: Seit wann machst Du diese digitalen Foto-Emoji-Montagen? Schon früher parallel zum Slamen oder erst als Satire auf diese Hochstaplerin, nach der Du Dich nun benannt hast? Deine ersten Arbeiten finde ich erst ab 2016 auf Twitter. Gab es früher schon künstlerische Ambitionen? Was war zuerst da: die Kunst oder die Literatur?

 

07. NAHBELLANTWORT

alles begann vor über zehn jahren mit dem spontanen vortrag. ich hatte ungeheuer viel spaß am performen, an dieser knisternden stimmung beim slam, wenn ich ans mikro ging, diese eisige totenstille eintrat, und ich den blick in das schwarze nichts wendete, wo sich durch das blendende scheinwerferlicht hindurch die geifernde masse befand, die nur darauf wartete, meine rede wie ein hungriges wolfsrudel zu zerfetzen oder mich wie eine göttin durch den applaus in den olymp zu heben. das war adrenalin pur! es machte süchtig! dieses gefühl der totalen freiheit, zu sagen, was immer du willst, dieser größenwahn, diese macht über das publikum zu haben, das seinerseits kein mikro hat wie in einem echten hiphopper battle, sondern das meinen text erstmal ertragen muss, und nur durch das klatschen oder buhrufen am ende beeinflussen kann, ob der gladiator getötet oder geehrt wird. den text selber konnten sie nicht verhindern, der text war das heilige, göttliche, das als gigantische schallwelle in ihren ohren ankommt. ich war mit dieser kunstform des live performen voll ausgelastet, jahrelang, und bin erst durch diese ulknudel, die mit ihren superlativen lorbeersprüchen eigentlich nur als virtuelles mediengespenst durch den österreichischen kunstbetrieb spukt, aus quatsch darauf gekommen, fotos mit einer fotoeditorapp zu überarbeiten. das war eine art zufälliger ablenkung, geistloser zerstreuung oder sogar manchmal selbsttherapie, so wie andere beim telefonieren ganze papiere mit labyrinthischen ornamenten vollkrickeln. mir ist ja am ende der schädel nach auftritten geplatzt, diese droge "text" war eine selbst verabreichte überdosis an wörtern, die mich nach einem slam noch im traum verfolgten. das war auch der einzige grund, warum ich dann irgendwann anfing, die texte im nachhinein aufzuschreiben: ich musste sie wie einen fluch magisch bannen, um sie aus meinem kopf wieder rauszutreiben, aber ich konnte gar nicht so viel schreiben, wie ich performte. ich war keine literatin, ich war nur live wirklich gut. darum hab ich auch keinen der slamtexte jemals veröffentlicht. das war keine literatur, sondern nur eine eventös akademisch aufgeblähte echtzeitdroge für das partyvolk. klar, daß dann irgendwann dieser ekel begann, und ich das ganze format "slam" nur noch widerlich fand: alle saufen und kiffen, vor und auch hinter der bühne, es geht überhaupt nicht um inhalte, es geht nur um ficken, fame und fun! wenn du bedenkst, daß der slam mitte der achtziger ursprünglich hochgradig politisch war, als marc smith ihn erfand, weil da auch street rapper aus den ghetto stadtvierteln auftraten, dann ist davon null übrig geblieben. politik hat zwar seit einiger zeit wieder einen gewissen höheren spaßfaktor erworben, aber nicht als kritik am system sondern nur als satire mit endgeilem klamauk. während dekadente studenten immer höheren eintritt für poetry slams zahlen, um ihre persönliche tristesse royale in einer trendy coolness zu ersaufen, verdrängen sie das dystopische sterben der bienen und die gletscher im ewigen eis schmelzen weiter und weiter, völlig unbeeindruckt von unserer literatur! der slam ist schon lange tot, aber für mich war er noch nie toter als zu dem zeitpunkt, seitdem ich mich vor mir selber dort oben auf der bühne zu ekeln begann...

 

08. NAHBELLFRAGE

Heisst das, Du wirst nicht mehr auf Slambühnen auftreten, sondern nur noch "echte" Lyrik schreiben und publizieren? Oder könnte vielleicht auch ein Wunder geschehen und Du würdest in das Milieu heimkehren, in dem Du gelernt hast, was Literatur kann und was das Publikum will?

 

08. NAHBELLANTWORT

es wäre kein "heim" kehren; denn ich war nie wirklich heimisch im slam. mein zuhause war immer schon dieser seelische innenraum, in dem ich die welt mit den richtigen worten sortiere. aber auch mit der lyrik an sich bin ich nicht sicher, wie lange das fruchtbare ergebnisse abwirft. mir ist daran gelegen, die welt nicht noch mehr zuzumüllen. ließe sich die erde vom weltall aus so betrachten, daß nicht nur das elektrische licht überall auf der nächtlichen halbkugel sichtbar wäre, sondern noch zusätzlich die werbetafeln mit ihren hohlen verkaufsschlagern und alles, wo sprache zu plakativen zwecken missbraucht wird: der planet würde grell leuchten vor lauter wortmüll! ich werde mich hüten, gedichte am laufenden fließband zu produzieren, nur um mit dauerndem high speed "im gespräch" zu bleiben – lieber gerate ich in vergessenheit mit einem überschaubaren werk, das ein konzentrat meines lebensgefühls darstellt, als mich mit eye catcher buchtiteln in selbstwerbung zu verausgaben, nur um bis ins hohe alter bei der meute angesagt zu sein. den neuen feminismus, den du in deiner amazon rezension andeutest, mag es schon geben, aber bestimmt nicht aus solchen frauen bestehend, die nur alte männer nachahmen, denen wir das apokalyptische desaster aus monokultur à la soylent green (scifi-klassiker) und mikroplastik verdanken. wir brauchen aber auch keine weiteren neuen männer (wie es ina deter in meinem geburtsjahr vor bald vierzig jahren sang), die ihre sixpacks und nutrition smoothies auf instagram so irre irreversibel hirnlos zur schau stellen wie die fitnessbräute ihre falschen fingernägel, blowjoblippen, blowtoxfrisuren und faltenfreien zombie-botoxgesichter wie im film brazil (von terry gilliam, monty python). wenn überhaupt, dann brauchen wir ideologiefreie neue MENSCHEN, die sich nicht mehr über ihr gender klassifizieren, sondern über restlos innere werte wie liebe, wohlwollen, empathie, urvertrauen, neugier, interesse, offenheit, fürsorge, ehrlichkeit und aufrichtigkeit im umgang miteinander. weil wir menschen sind. eine große familie. wir sind alle verwandt miteinander. trump mit putin mit jinping mit macron mit kim jong mit assad mit erdogan mit kurz mit merkel mit maurer und berset. nicht nur ein globaler klüngel, sondern vetternwirtschaft vom feinsten. wenn eines tages aliens landen sollten, möchte ich mich nicht für meine geschwister schämen müssen, die sich dann wahrscheinlich streiten, wer den freunden aus den unendlichen weiten des weltraums als stellvertreter die hand zuerst schütteln darf, obwohl die aliens weder freunde sind noch hände haben...


WEBSITE: www.KUNSTYOGA.de

 

Das Nahbell-Interview mit Tanja Play Nerd erscheint 2018 PÜNKTLICH zur Preisverleihung unter dem Titel "GENERATION OVERCHILL" als ihr drittes Buch, wieder im BoD Verlag: