25.NAHBELLPREIS 2024

RISIKOLYRIK: DER OSNABRÜCKER TEXTFLECHTER ULRICH JÖSTING

Ulrich Jösting, geboren 1962, wohnhaft in Osnabrück an der HASE. Verfasst Textmaterial seit Jugendzeiten. Erste Präsentationsinitiative zwischen 86 und 89 auf lokaler Ebene. Kurze Mitgliedschaft im Autoren-Progressiv-PegasOS. Rückzug in eine intensive konzentrierte Schreibphase zwischen 90 und 94, auch zur Vorbereitung der zweiten Präsentationsoffensive zwischen 95 und 2001 mit über  60 Publikationen in Anthologien, Literaturzeitschriften und E-Zines, darunter SUBH, pandämonium, ZEITRISS, Laufschrift, CET, Die Brücke, My Way, KULT, Das fröhliche Wohnzimmer, Tänzer, härter, Headline, KRACHKULTUR, Der Achimer Hausfreund, Dreischneuss, Produzentenzeitschrift S.E.N.F. (SchmutzEngel Neue Folge), text.zeitschrift für literaturen, Slam Poetry Band 1 & 2 (Killroy Media), angst (edition sisyphos), Kaltland Beat (Ithaka Verlag). Ab 2001 zehnjährige Elternzeit. Seit 2011 Wiederaufnahme intensiver Schreibtätigkeit. Von 2016 bis 2018 Digital-Art-Projekt "Hauptwörter". Seit 2019 Publikationen auf Socialmedia- und anderen digitalen Plattformen. Einzelpublikationen: Gedichtband "Ich bestatte ein Eichhörnchen" (BoD Verlag 2023).

 

Website: ulrichjoesting.de, Beispiele aus dem Projekt HAUPTWÖRTER 2016-2018

Im Poesiesalon.de, auf Instagram, auf Facebook: Autor, Schriftsteller, Poet, Dichter & digitale kunst + lyrische interventionen

 

Über sich selbst sagt der Autor:

"Geboren und aufgewachsen in einer Welt der Konventionen und des Mainstreams, entdeckte ich schon früh meine Leidenschaft für das Andersartige, das Unergründliche und das Schreiben. Inspiriert von den Werken avantgardistischer Autoren und Künstler, begann ich, experimentelle Texte zu verfassen und die Grenzen der Sprache auszuloten. Mein Streben nach künstlerischer Freiheit führte mich dazu, mich intensiv mit allen Grenzbereichen, der Tragik und anderen Herausforderungen des postmodernen Lebens auseinanderzusetzen. Ich gehe auf eine Reise in die Tiefen des Denkens, in der ich konventionelle Muster dekonstruiere und neue narrative Formen erschaffe. Diese Reise in das Reich der Experimente und des Ungewöhnlichen wird begleitet von einer tiefen Neugierde und einem unstillbaren Appetit nach Erkenntnis. Es ist mir ein ständiges Bedürfnis, die Grenzen des Verstehens zu erweitern, Denkmuster zu hinterfragen und neue Wege des Ausdrucks zu finden. Als Autor und Künstler habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, herauszufordern, zu inspirieren und Gedanken zu entfesseln. Meine Werke sind ein Spiegel des unkonventionellen Geistes und zeugen von einer kreativen Intensität, die den Alltag transzendiert, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung erweitert, eine Tür öffnet."

 

Auf dem Portal Autorenwelt.de liest sich:

"Jöstings leidenschaftliche Dichtkunst öffnet weit ein Portal ins Multiversum bedingungsloser Poesie und lyrischer Möglichkeiten. Seine literarischen Kompositionen finden in jeder Hinsicht übergreifend statt, sind lyrischprosaisch, abstraktkonkret, postmodernromantisch, alles in allem schwingen sie aufregend und genügsam zwischen bedeutungslosem Unsinn und tiefsinniger Tragweite. Vielleicht zerstören sie Illusionen oder lassen Erleuchtung erleben, auf jeden Fall treffen sie dich hier."

 

 

 


DAS GROẞE NAHBELLPREIS-INTERVIEW:

"DIE RICHTIGE FREQUENZ AM ENDE DER ENERGIESPUR"

 

01. Nahbellfrage

 

Lieber Ulrich, wir kennen uns seit 1993 oder 1994 dank der SocialBeat Bewegung, wenn ich mich nicht irre? Seinerzeit wurden von mir Texte im Osnabrücker Literaturmagazin "Labyrinth & Minenfeld" veröffentlicht. Waren wir da nicht sogar in denselben Ausgaben gemeinsam vertreten? Jedenfalls fand ich Deine damaligen Prosatexte schon ungewöhnlich poetisch, nicht konventionell prosaisch. Seitdem sind drei Jahrzehnte vergangen und plötzlich tauchst Du wie aus dem Tiefschlaf erwacht mit Lyrik auf, in einem fragmentarischen Stil wie zersprungene Spiegel, in denen das Gesicht zwar zu sehen ist, aber in verschobenen Splittern, die sich passend zueinander anfühlen, aber mit Bruchstellen vernarbt sind. Ich weiß nicht, ob ich Dir mit einem derartigen Vergleich gerecht werde, aber ich würde sagen, Deine Gedichte sind beinahe "unlesbar", zumindest nur schwer, aber nicht aufgrund zu hermetischer Metaphern, sondern genau umgekehrt wegen ihrer metapherlosen, aber unkausalen Konkretheit, und genau das zeichnet sie aus. Sie erinnern mich etwas an die Gedichte des Nahbellers Peter Rech, der seinen Ansatz "dissoziative Dichtung" nannte. Allerdings basiert das Unkausale und Dissoziative bei Dir auf völlig anderen Themen und obwohl ich Deinen ersten Gedichtband einige Male vor und zurück gelesen habe, verstehe ich immer noch nicht, worauf Du mit Deinen Texten abzielst. Und schon wieder ertappe ich mich dabei, etwas Merkwürdiges an Deinem Stil zunächst unangenehm zu finden, nur um dann festzustellen, dass es genau diese unkontrollierbare Absichtslosigkeit ist, die den leicht gruseligen Charme Deiner Poesie ausmacht! Also, bevor ich mich jetzt weiter in falschen Analysen aufhänge, gratuliere ich Dir erstmal recht herzlich zum 25. Nahbellhauptpreis und übergebe Dir das Wort.

 

01. Nahbellantwort

 

Es ist mir eine Ehre und Freude, mit dem Nahbellhauptpreis ausgezeichnet zu werden. Vielen Dank, lieber Tom de Toys, für Anerkennung und Wertschätzung meines literarischen Schaffens durch diese Preisvergabe! Ja, wir beide kamen Mitte der 90er Jahre in Berührung und Austausch, als ich regelmäßig und zahlreich kurze Prosatexte in den einschlägigen Literaturzines/-zeitschriften und Anthologien vornehmlich der SocialBeat Szene veröffentlichte. Auch wenn diese Texte schwer zugänglich, surreal und kryptisch waren, fanden sie doch bei den Herausgebern Gefallen. Ein Verlag, der plante, eine großformatige Prosaarbeit von mir als Einzeltitel zu publizieren, ging leider kurz vor der Veröffentlichung pleite.

 

02. Nahbellfrage

 

Was ist denn aus diesen frühen Kurzprosen geworden? Sind sie seitdem niemals in Buchform oder im Internet erschienen? Könntest Du uns ein solches Frühwerk beispielhaft zur Verfügung stellen? Und hast Du damals schon Lyrik fabriziert, gibt es lyrische Frühwerke? Wann sind die Gedichte entstanden, die neulich als Band erschienen? Worin besteht der Unterschied für Dich zwischen Prosa und Lyrik, wann und warum schreibst Du so oder so?

 

02. Nahbellantwort

 

Nach meiner Schreib- und Präsentationsoffensive in den 90ern fühlte ich mich am Ende ausgebrannt, hab' mich ins Private zurückgezogen, eine Familie gegründet, als Pädagoge auch gearbeitet und das Schreiben für über 10 Jahre auf Standby gestellt. Bis sich die Lust auf die Wortspielerei wieder aufdrängte und zu neuen Textkreationen antrieb. Zurzeit beabsichtige ich dieses Material und auch einiges der Kurzprosa aus den 90ern in bearbeiteter Weise in Zukunft zu veröffentlichen. In "Ich bestatte ein Eichhörnchen" ist überwiegend Textmaterial aus den letzten Jahren enthalten, die prosaartigen Passagen am Anfang und Ende stammen aus den 90ern. In literaturwissenschaftlichen Kategorien oder marketingorientiertem Labeling mag ich nicht mehr denken und schreiben. Ich versuche, mich beim Schreiben in einem mir bestimmten Emotionsfeld zu bewegen, auf und mit dieser bestimmten Frequenz zu schwingen, der Energiespur zu folgen. Wenn das gelingt, ist ALLES, was entsteht, richtig und gut. Richtig gut. Für mich. Wahrscheinlich mag sich sodann beim Rezipierenden meiner Textgeflechte auch Bewegung ereignen. Das ist eine Nachwirkung des Schaffensprozesses, die mich freut, wenn ich sie bemerke, ist aber beim Schreiben selbst unmaßgeblich.

 

03. Nahbellfrage

 

Dein energetischer Ansatz klingt sehr interessant, es ist an der Zeit, dem geneigten Leser endlich einige beispielhafte Primärtexte zu liefern! Bitte stell uns 1 kurzen Prosatext und 3 ausgewählte Gedichte zur Verfügung, an denen Dein Stil nachvollziehbar wird. Ich wäre dankbar, wenn Du dazu erläutern könntest, wie und wodurch die Texte entstanden, also welche Inspirationsquellen Du hattest, welche biographischen/psychischen Hintergründe Einfluss auf ihre Entstehung nahmen - und: wie lange Du für die Niederschrift brauchst, also bis die veröffentlichungsfähige Endfassung fertig ist. Bist Du ein intuitiver Schnellschreiber (wie es damals Jonas Gawinski war) oder ein tagelanger Tüftler (wie z.B. Theo Breuer, der sogar nach vielen Jahren neu überarbeitete Versionen nochmal neu publizierte, so dass es mehrere gültige Versionen desselben Gedichtes geben kann)? Woher weißt Du, wann ein Text vollendet ist? Und wie entscheidest Du, dass seine Qualität Deinen Ansprüchen genügt? Kriegst Du viel Gegenwind aus der Lyrikszene, wirst Du von Kollegen wahrgenommen und kritisiert oder gelobt? Wie funktioniert das Feedback in der Socialmedia-Ära überhaupt?

 

03. Nahbellantwort

 

Mir behagt es nicht, persönliche Hintergründe zu offenbaren, die bei der Textentstehung Einfluss genommen haben. Es entstehen ja lyrisch-poetische Texte, weil ich tatsächliche Lebenserfahrungen, Gemütszustände, Geschehnisse gar nicht konkret und real darstellen will und kann, sondern in der Verschlüsselung und Transformation, der Entstellung und Verklärung, der Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit eine Auseinandersetzung, Bewältigung, Befriedigung, ein Ausdrücken erlebe. Den entstandenen Text präsentiere ich dem geneigten Lesenden danach zur eigenen Reflexion. Anlässlich der Preisvergabe setze ich mich aber mal über mein Unbehagen hinweg und gebe hier preis:

 

 damals

sie können

Türme sehen

täglich

entlang fahren

dorthin

abends und

morgens

 

In Brooklyn und Queens kann man am Hudson-Ufer stellenweise spazieren gehen. Von da aus konnte man früher die beiden Türme des WTC sehen. 1999 war ich auch zum ersten Mal in New York, und habe auf einem dieser Türme gestanden. So ist dieser Text meine persönliche 9/11-Erinnerungsstätte. Ein Thema, das mich sehr intensiv bewegt seit meiner Jugend, ist der Holocaust. Mein Schreiben ist auch ein Sprachraum für Schuld und Trauerarbeit:

 

ein stiller tag beginnt

kein gebrüll kein gesang

warmes bett

der benachbarte raum voll asche

am waldsee abgezweigtes holz

schwere haare

 

Und selbstverständlich fließen mal Samples deutscher Lyrik und Prosa ein als Flirt und Geplänkel mit meiner Literaturgeschichte:

 

Täter wenigstens

spiegelt lauter nichts

im morgenroten Opfer

seltsam langsam

unterwegs

Täter tut

Opfer spürt

kaum einen Hauch

 

Tendenziell arbeite ich an meinen Texten wochenlang. Ich stelle um, ersetze, verändere, ergänze, tausche aus, das Übliche eben. Bis dann irgendwann dieses bestimmte Gefühl da ist, dem ich gelernt habe zu vertrauen, diese eine Frequenz am Ende der Energiespur: So ist es richtig. Jetzt ist der Text fertig. Das ist es, das war's.

 

Mein Boot auf glatter See

 

Ich finde ein geheimes Tagebuch. Es beschreibt eine Sintflut unbeherrschter Gefühle. Aber da gibt es einen Berggipfel, der aus der Oberfläche herausragen wird. Er könnte die Rettung bedeuten. Ich habe gleich gesagt, da sollten wir hin.

Es geht nur ums Überleben.

Ich erscheine als Druide, der das Publikum mit einem Horn Met begrüßt und Birkenzweigen. Da sehe ich eine Frau, die heißt Pamela Holz. Sie spricht französisch und besucht abends nach der Eröffnung einer Ausstellung einen alten Mann, der in einem Sessel sitzt und an verlorene Schlachten denkt, bei denen er seine Freunde verlor. Es waren tapfere Männer, die für ihr Land kämpften, nachdem sie an einem Kurs für Rhetorik teilgenommen hatten.

"Sie kommen."

Die Frau hofft und sie fürchtet.

Sie ist nur ein einfacher Soldat und muss mit ansehen, wie diese Eunuchen den alten Mann umbringen, indem sie ihn an den Armen und Beinen fesseln und ihm feuchte Tücher auf das Gesicht legen. Hier ist ihre Geschichte, sie ist kein Engel und keine Heilige. Sie ist eine Mutter, die Salat frisst.

"Ich tue das aus Liebe zu den Mädchen."

Es gibt ein Heiligtum, in das eine Schlange kriecht, die bereit ist, zu lügen. Die Barbaren zerstören den Palast, der hundertfünfzig Jahre alt ist. Die Bediensteten ertränken sich im Teich, während der Kaiser in seiner Sommerresidenz jagt. Ich bin der Kaiser. Ich wünsche mir eine Überraschung, eine Bombardierung, und ob Verständnis oder Urteil, es ist in jedem Fall meine Entscheidung.

 

[Anderes Prosa-Beispiel im Poesiesalon: "Wie lang der Weg fühlt"]

 

Mit dem Begriff "Qualität" kann ich bei Kunst nichts anfangen. Ich habe kein Qualitätsmanagementsystem, mit dem ich meine Texte bearbeite. Kunst sehe ich als wertfreien Spielraum menschlicher Kreativität, in dem der Kunstschaffende frei von Qualitätsstandards kreieren darf, wie er mag. Und wenn der Kunstschaffende dann sein Kunstwerk zur Rezeption frei gibt, mag der einzelne Rezipierende für sich entscheiden, welchen Wert es hat. Kritik und Lob sind willkommen. Kritik als Symptom für die Wirkung eines Textes, der etwas berührt und bewegt, etwas in Schwingung versetzt hat. Lob ermutigt, motiviert.

 

04. Nahbellfrage

 

Danke für diese sehr berührende Antwort, die wirklich aufschlussreich ist; denn obwohl Deine Gedichte hermetisch, ja leicht kryptisch wirken und die häufigen skurrilen Bildbrechungen zu Irritation (vielleicht sogar Ablehnung?) führen können, schwingt ja immer beim Lesen etwas Atmosphärisches mit (vielleicht das, was Du als Energie eingesetzt hast!), oftmals einen "gruseligen" Nervenkitzel auslösend, aber nur selten das Gefühl, das Geheimnis des Textes zu lüften und sich damit identifizieren zu können. Dieses befremdliche Gefühl zeichnet Deine Gedichte aus, wie ich finde, es macht sie interessant, gerade weil Du es schaffst, mit einer derart geringen Wortwahl unglaublich große dunkle Energiefelder zu entwickeln. Die Diskussion um "Lesbarkeit" und "Schwierigkeitsgrad" in der zeitgenössischen Lyrikszene, also die Frage, wie LESBAR oder wie SCHWIERIG ein "gutes" Gedicht sein müsste, diese Diskussion findet in Deinem Stil ein erstaunliches Ende: Deine Gedichte sind irgendwie lesbar UND schwierig zugleich, sie nehmen einen mit in einen unbekannten Raum, zeigen dem Leser die Wände und Ausmaße des Raums, aber dieser poetische Raum bleibt trotzdem dunkel, Du knipst das Licht nicht einfach an, um billige Tapeten vorzuführen, wie es typischen Hobbydichtern passiert, deren Werke ich gerne mit einem Gedichttitel der Nahbellerin Tanja 'Lulu' Play Nerd als "Literatur light" (Lyrikzeitung 31.12.2023) bezeichne, was nun sogar eine doppelte Bedeutung erhält! Du weißt ja, ich vertrete selber die antimetaphorische Richtung "direkter" Poesie und erlebe es daher meist, mehr Spaß an besonders leicht lesbaren Poesien wie z.B. des Nahbellers Clemens Schittko zu haben, die ja keineswegs "light" sind, eher "hard", also wie Hardrock quasi "hard poetry". Besonders "direkte" Gedichte erzeugen ja beim Leser die schnelle Überzeugung, den Inhalt zu verstehen, nachzuvollziehen und sich damit identifizieren zu können, wodurch es ein persönliches Herzensgedicht werden kann, also eines, das man sogar ins Poesiealbum der besten Freundin schreiben würde, mit Blümchen umrahmt etc pp. Ich kenne von Dir eigentlich nur solche Gedichte, die man niemandem ins Album kritzeln wollte, weil sie eben so dunkel wirken, fast böse, gemein, gefährlich - oh ja, das ist es: gefährlich! Du schreibst GEFÄHRLICHE GEDICHTE, bingo! Sie verströmen ein Risiko, sie sind Risikolyrik par excellence! Und das finde ich wirklich genial provokativ daran. Zwischen den Extrempoesien von Schittko am einen Pol bis zu Jösting am anderen Ende liegt diese ganze lyrische Landschaft von normalen, langweiligen Texten, die lyrisch herummenscheln, ohne eine krasse, innovative Nachricht zu funken. Was nicht heißt, dass diese ganze Bandbreite schlecht sein muss, aber eben kein Alleinstellungsmerkmal besitzt. Deshalb bist Du ein würdiger Nahbellpreisträger, meine ich jetzt zu begreifen, entschuldige, wenn ich so ausführlich laut denken muss, um es selber zu begreifen. Aber ich denke dabei immer an jene Leser und Fans des Nahbellpreises, die vielleicht davon profitieren, nicht mit ihren eigenen Fragezeichen allein gelassen zu werden. Bei aller brutal sezierenden Analyse, die wir im Interview betreiben können, lässt sich ein starkes Gedicht doch niemals "kaputtinterpretieren". Die Stärke der Werke liegt jenseits jeglicher Erklärbarkeit ihrer Bedeutung, sie haben selber die Bedeutungshoheit als das, was sie sind: Gedichte - wie Blumen, die man auch nicht durch Abzählen der Blütenblätter rational erklären kann. Wie sagte Gertrude Stein? Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Sag mal, wann hast Du zum allerersten Mal überhaupt gedichtet? Als Teenager? Herzschmerzgedichte für den Schulunterricht? Wie und wann wurde Dir klar, daß Du ein Dichter bist? Hast Du extreme Frühwerke sogar veröffentlicht? Die Dir heute eher peinlich sind?

 

04. Nahbellantwort

 

Warum ist es kalt, wenn ich friere? Vor Kurzem habe ich noch einmal Orwells "1984" gelesen und nicht nur daher wirft sich die Frage auf, inwiefern die von mir selbst hier vorgetragenen Fragmente meiner literarischen Entwicklungsgeschichte eigentlich relevant sind und wahrhaftig. Eventuell hab ich ALLes nur geträumt. Nun gut, ich will versichern, dass ich meine Erinnerungspflege hier auf jeden Fall ehrlich betreibe, weil ich beim Lügen immer rot werde. Ich habe mich also schon als Kind sehr für Bücher in den Bücherregalen der Verwandtschaft interessiert und seit ich damals halbwegs lesen konnte, ein Buch nach dem anderen verschlungen. Ich erinnere mich, dass ich mir in der Grundschule beim Aufsatzschreiben kleine Wettbewerbe mit einem Klassenkameraden lieferte, die ich selbstverständlich gewann. Ich schrieb ein erstes holpriges Gedicht anlässlich der Hochzeitsfeier meines Patenonkels, das ich in meiner kratzenden Sonntagshose vortrug, die meisten Gäste waren entzückt. Ein leidenschaftliches Interesse fürs Lesen und Schreiben war erkennbar früh aufgekeimt und wuchs beständig an. In diesen jungen Jahren entstand die Fantasie, mal ein Mensch zu sein, der Texte und Bücher kreiert. Als dann mit der Pubertät die Geschlechtswerdung und andere eindrucksvolle Identitätsfindungsprozesse einsetzten, habe ich mich viel schriftlich reflektiert, ausgesprochen, ausgedrückt. Ich habe Befriedigung erfahren, die Schreiben bewirkt, und die magische Kraft entdeckt, mich zu entwickeln, zu befreien, mich und ALLes zu erschaffen, zu begreifen, wenn ich Innenwelten außen in Worten und Sätzen manifestiere. Zwar war ich am Anfang meines Schreibens doch eher der Epik zugeneigt, meinte, der Roman sei die Königsdiziplin der Literatur, aber meine Prosa wollte dann immer mehr nicht wirklich einfach durchschaubar erzählerisch sein, sondern verdichtete sich schon beim Wort, verirrte sich im Satz, verstrickte sich beim Sätzeaneinanderreihen. Am Ende meiner Schulzeit hatte sich die Fantasie, Schriftsteller zu werden, in mir ganz ausgebreitet. Was zeigen sich eigentlich zwei Spiegel, die sich direkt gegenüber stehen? Ich schloss mich kurz einer Autorengruppe an, in der man Texte miteinander besprach, aber als ich herausgefunden hatte, dass sich meine Sachen immer zwischen "scheiße" und "genial" bewegten, verließ ich die Gruppe wieder. Die postmoderne Avantgarde einiger bildender Künstler und Musiker zog mich mehr an und wirkte sich massiv auf mein Schreiben aus. Ich sagte mich zunehmend los von allen Konturierungen der äußeren Form und entdeckte Kunst, insbesondere mein Schreiben, als total freien Gestaltungsraum, in dem nur ich das Limit bin. Also wirft sich seitdem die Frage auf: Wie verschwinde ich?

 

05. Nahbellfrage

 

Das Verschwinden des Ichs im Sinne der Protagonisten in Romanen war ja ein vor allem französisches Anliegen der Postmoderne. Was passiert mit Deiner Literatur, wenn das Ich verschwindet? Limitfreie Literatur, was wäre das? Oder löscht sich mit dem Ich auch die Fähigkeit des Menschen zu dichten an sich? Gibt es Texte von Dir, die das Verschwinden selbst thematisieren? Falls ja, könntest Du ein Textbeispiel liefern? Siehst Du da einen Zusammenhang zwischen literaturtheoretischen und spirituellen Problemen? Wenn Du fragst "was zeigen sich eigentlich zwei Spiegel, die sich direkt gegenüber stehen", denke ich unwillkürlich an die Tradition der Kōans und zenbuddhistischer Erleuchtungsmethoden. Beschäftigt Dich sowas?

 

05. Nahbellantwort

 

Der Irrsinn des ICHseins beschäftigt mICH naturgemäß, die Irrwege der Fleischwerdung, die Paradoxien und Polaritäten des Menschhierseins, das sind immer wiederkehrende Themen meiner Textkreationen, Tagesordnungspunkte meiner schreibenden Auseinandersetzung mit dieser Lebenserfahrung, Angelegenheiten des Mitteilungsbedürfnisses und der Selbstermächtigung eines Ich-Konstrukts, das seine Botschaften an die Welt und Beiträge zu Kunst und Kultur scheu und schüchtern bis fast zur unverträglichen Unzugänglichkeit verschlüsselt und es dann für ganz große Klasse hält. Schreiben dient mir zur Selbsterforschung, hilft bei der Selbstentwicklung und -bewältigung, es ist egoistisch und egozentrisch. Ein nächstes neues Buch (erscheint spätestens im Herbst) wird die ICH-Expression und/oder -Implosion weiter mit allen Schaffenskräften vorantreiben. Die Ich-Auflösung im spirituellen Sinn als kosmische Verschmelzung mit einem wahren Sein, der universellen Weltenseele, dem göttlichen Selbst strebe ich noch nicht an (sie wird mir unvermeidbar am Schluss geschehen), denn zu sehr genieße ICH mittlerweile mein Ichsein eher als dass ich mICH ertrage, ich spiele und kämpfe mit mir, ich verehre und verachte mICH, finde und verliere, konstruiere und dekonstruiere die Egoidentität, das Selbstkonzept, mein Selbstgebilde, was nach über 60 Jahren Lebenszeit nunmehr vornehmlich gelingt und ICH in einem fast ausbalancierten Zustand zwischen den Polen Größenwahn und Selbstverzweiflung existiere. Das ist auch spannend. Kōans als kurze, paradoxale, rätselhafte Sätze gibt es in meinen Texten bestimmt. Wenn ich sie geschrieben habe, dienten sie dazu, mein Denken zu stoppen und das Erkennen zu manifestieren, dass tiefere Einsicht nicht weiter erlangt werden kann. Also ist mein Schreiben auch für mich Meditationstechnik, Achtsamkeitspraxis, Beleuchtungsmethode. Aber noch will ich nicht jenseits der Worte Wesen sein, sondern mit und durch sie. Vermutlich habe ich mit diesen Äußerungen über mein Schreiben und die Bedeutung des Schreibprozesses nichts wesentlich Neues dem hinzugefügt, was andere Schreibende auch verlautbaren, dass also das Schreiben als eine Form der Selbstentdeckung und Selbstreflexion empfunden wird, dass es ein Weg ist, um Erfahrungen, Fantasien und Gefühle mit anderen zu teilen und eine Verbindung herzustellen, dass es ermöglicht, Vorstellungskraft und Kreativität zu entfesseln, dass es eine Quelle der Freude, des Trostes, der Erkenntnis und der Eigentherapie sein kann, dass Schreiben es schaffen kann, sich vollständig und authentisch auszudrücken und eine einzigartige Stimme in die Welt zu tragen und irgendeinen Eindruck zu hinterlassen. Schon merke ich wieder, dass dieses Denken und Schreiben ÜBER das Schreiben und Denken anfängt, nervös zu machen, mich ärgert, wie alles, was über das eigentliche Schreiben hinausgeht, also das Präsentieren, die Öffentlichkeitsarbeit, usw. mich nervt und stresst. Auf dieser Sekundärliteraturebene mag ich mich nicht aufhalten, da geht mir schnell die Luft aus. Könnte präpotent behaupten, dass ich es langweilig und sinnfrei finde, aber ehrlich gesagt bin ich damit wohl einfach überfordert, bin ein Autor, der Urheber der Texte, da fühl' ich mich wohl und sicher, auf der Metaebene erlebe ich mich unsicher und unqualifiziert. Ich mag nicht wirklich die Notwendigkeit akzeptieren, mich selbst zu präsentieren und über mein Werk zu sprechen, das als eine wichtige und unabdingbare Aufgabe ansehen, um ein Publikum zu erreichen, meine Texte zu verbreiten und zu fördern. Ich kann nicht wirklich erkennen, inwiefern es von Bedeutung ist, über den Schreibprozess, Inspirationen und Gedanken hinter den Texten zu sprechen und Einblicke in die Entstehungsgeschichte und die Motivationen geben. Diesbezüglich bin ich gehemmt und kultiviere eine kritische, gar ablehnende Haltung. Ich ziehe es vor, dass mein Werk für sich selbst spricht, will nicht mich selbst prominent in den Mittelpunkt zu stellen, möchte meine Privatsphäre wahren, fühle mich unsicher im Rampenlicht einer Lesebühne, habe da Schwierigkeiten über das Vorlesen hinaus, meine Gedanken und Ideen verbal zu kommunizieren. Das hatte ich ja bei einer früheren Frage schon einmal erwähnt und gehe jetzt nochmal drauf ein, weil ja diese Haltung, diese individuelle Präferenz, dieses Schriftstellerpersönlichkeitsmerkmal mich zu dem Autor macht, der ich jetzt bin: Ein Mensch, der sein Leben lang literarisch geschrieben hat, für den das Schreiben immer von großer Bedeutung war, die Lebensraum eingenommen und Lebenszeit gekostet hat, so dass anderes zu kurz gekommen ist, vernachlässigt wurde, Nebensache war. Jemand, der Textmaterial angehäuft, ein Werk verfasst hat, leidenschaftlich, mit Eifer. Der phasenweise publiziert, sich analog oder virtuell vernetzt, Öffentlichkeit gesucht hat. Zaghaft, verschämt, vorsichtig. Zuversichtlich, überzeugt. Ein Schreiber, der als Selfpublisher nun und in den nächsten Jahren, die verbleiben, Bücher veröffentlicht, Lesenden zur Rezeption anbietet, bereit stellt. Ein Autor, der jetzt hier mit dem Nahbellhauptpreis ausgezeichnet wird und sich darüber sehr freut, sich und sein Schreiben gewürdigt sieht.

 

06. Nahbellfrage

 

Um Dein Werk auch für sich selbst sprechen zu lassen, lass uns nun bitte drei ausgewählte Gedichte Deines Debutbandes lesen. Und verrat uns, welche Autoren Du liest, schätzt, Dich vielleicht sogar als Vorbilder inspirieren! Du erwähntest ja bereits die Postmoderne, welche aus dem Spektrum sind da für Dich besonders wichtig? Und welche abseits dieser speziellen Richtung? Historische? Zeitgenössische? Haben sie konkreten Einfluss auf Dein Werk, Deinen Stil, auf die drei folgenden Gedichte?

 

06. Nahbellantwort

 

Bevor ich drei Gedichte in meine Antwort einfließen lasse, möchte ich ein Gedicht voranstellen, das mir erst jetzt beim Durchblättern meines Debütbandes aufgefallen ist bezüglich deiner vorherigen Frage zur Ichauflösung, denn darauf scheint es einzugehen.

 

im guten hotel oben auf dem hügel

in der ecke eines auges

ist harte form mein schatten

 

mit einer kerze in der hand

den rücken zur wand

ist jeder mensch und tier

 

hier trete ich in die sonne

brauche das chaos auf

bis ich nicht mehr bin

 

Den Begriff "Postmoderne" hab ich möglicherweise fahrlässig benutzt (als Epochenbezeichnung ist er ja wohl auch unter Fachleuten noch umstritten und bezeichnet ganz grob und übergreifend alle Literatur nach dem hoffentlich letzten Weltkrieg). Was ich mit "postmoderner Avantgarde" gemeint und Ende der 80er dabei empfunden habe, das waren alle Vorkommnisse in der Kunst und Kulturszene, die damals konventionelle Klischees in Frage stellten, angriffen, demolierten und den erwachsenen Strukturen Rausch, Krach und Chaos entgegen hielten. Naja, ich war eben in meinen Zwanzigern. Und was frech widersprach, Krawall machte und Aufsehen erregte, das waren die Subkulturszenen in den 80ern. Insbesondere die Szene in Berlin zog mich an, wo ich dann auch von '87 bis Ende '89 lebte. Hier erschrieb ich mir meinen Stil und fing dann, wieder zurück in Osnabrück, Anfang der 90er an, mich zu vernetzen mit jener literarischen Avantgarde, die sich als SocialBeat manifestierte, präsentierte, profilierte. Da war das kreative Schaffen und Schreiben geprägt von allen Merkmalen, die der Postmoderne nunmehr zugeschrieben werden: Stildiversität, Formenfreiheit, Montagetechniken, Cut-up, fragmentarische unzuverlässige Erzählweise, Sprunghaftigkeit, unverbindliche nicht-stringente Weltsicht, irreale Effekte, Identitätsunschärfe, Vielschichtigkeit, Sprachexperimente, Relativierung der 4-Dimensionalität, Tendenz zur Multimedialität. Verschweigen möchte ich nicht, dass ein exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum in dieser Epoche Schaffenskraft und Weltsicht begleitete, beeinflusste und prägte. Das erwähne ich hier nach langem Überlegen aus persönlichen Gründen, mich hat der Konsum nämlich abhängig gemacht und ich konnte nur durch eine mehrjährige Therapie davon loskommen, lebe und schreibe jetzt seit Jahren trocken, nüchtern, clean und gehe einmal die Woche in meine Selbsthilfegruppe. 

 

dann wach ich auf nur eine stunde ist vergangen

die tage fließen ohne morgen bis sie noch mehr opfern

koche ich gerichte unter wolken da

hängt mein leben an einem haar

 

wie ein weiches attentat häutet wohltat wellenschlag

nichts fühlt noch wünscht noch glaubt jetzt mehr

als eine säule die raucht zum himmel hoch

liebe oder tod asche atmet immer noch 

 

ein großer alter diamant dankbar überm dach

lebt verdient am zufluchtsort vor dem stoß eichen

streifen wagen bevölkert werkzeug kästen 

warten haushoch menschen die wäsche wechseln

 

deshalb bin ich hier während eltern älter werden

bin berühmter als jeder trage schwarz und alle weiß

starte in den leeren tag fülle ihn mit kummer

erkenne zwischen mund und nase vaters nummer 

 

Ich mag auf zwei Schreibende näher eingehen, die mir Vorbilder sind, von denen ich immer wieder lerne, wenn ich ihre Texte lese. Beide beeindrucken mich mit ihrer Liebe zum Wort, zum Vers, zum Satz, mit dem andächtigen Respekt, mit dem sie die deutsche Sprache berühren und formen, sie nicht gebrauchen, sondern sich gebrauchen lassen, sich führen lassen von den Worten, von einem Wort zum nächsten, sodass Sätze und Texte entstehen aus sich selbst heraus, kongruent, synchron, ehrlich. Bei Ingeborg Bachmann fasziniert mich darüber hinaus ihre Präzision und Intensität, ihre Bereitschaft und Fähigkeit zu tiefgreifender Reflexion, aber ganz besonders die Präsenz der Zerbrechlichkeit von allem in allem, was sie geschrieben hat. Geprägt hat ihr Schreiben bei meinem Schreiben auch jener Ansatz, der von der Literaturwissenschaft wohl "hermetische Lyrik" genannt wird, eben eine schwer zugängliche Semantik, eine oft abstrakt-kryptische Metaphorik und eine herausfordernd anstrengende Vieldeutigkeit.

 

ich atme ein

spiele mit mir

verlasse die sonne

habe hunger und augen

wachsen auf den jahren

grün ist der andere rauch

so kühn gespannt durch alle welt

 

voll licht 

in einer Woche zwei Sprünge 

unter wehen

hoch verschattet 

gottgelobtes herz

haucht allein

dieses enge leben ein

 

jetzt geht es mir gut

bin sinn los

glaub dir alles

zweifele nicht mehr

bleibe ohne grund

schlucke licht

älter als die zeit

 

Peter Handke beeindruckt mich immer wieder durch seine hemmungslose Beobachtungsgabe, die sich auf das Wesentliche reduziert verdichtet, seine selbstlose Subjektivität, mit der er im Text aufgeht, verschwindet, und seine ganz besondere poetische Ehrlichkeit, auf die er sich bedingungslos einlässt, sie mutig teilt. Verbunden mit dem beständigen Verliebtsein in die Worte, Sätze, Sprache schreibt er nahezu perfekte Texte, die stimmen, im Einklang schwingen, gerecht sind. Da möchte ich auch hin. Zum Abschluss noch mein persönliches Antikriegsgedicht aus gegebenem Anlass.

 

Vögel

drehen Herz

zur Leinwand

niemand sieht weg

geht los der heilige Krieg

alle werden sterben

Sohn Tochter

Vater Mutter

so ist das

 

07. Nahbellfrage

 

Die Erwähnung Deiner Zeit in Berlin (hattest Du damals Kontakt zur Lyrikszene im Stadtteil Prenzlauer Berg, also mit Bert Papenfuß und so?) bringt mir wieder in Erinnerung, dass ich Dich unbedingt fragen wollte, was Dich eigentlich mit Osnabrück verbindet (die Liebe? die Eltern? die Hase?) und bezüglich Deiner 4. Antwort, inwiefern das familiäre Umfeld in Deiner Jugend überhaupt wahrnahm (und würdigte), dass da ein Literat heranreifte? Und nebenbei: ist aus Deinem Klassenkamerad ebenfalls ein Autor geworden? Oder zählt er zu den Fallbeispielen, wie ein frühes Interesse wieder verpuffen kann, als ob man ein anderer Mensch gewesen sei?

 

07. Nahbellantwort

 

Nach Eingang deiner Frage hatte ich die Nacht drauf einen verrückten Traum, wie ja fast alle Träume verrückt sind, vor allem der vom Glück:

 

Ich sah von weitem meinen Grundschulklassenkameraden, der war nicht mehr neun, sondern älter, ziemlich dicker Bauch, hatte so einen Hut auf wie Franz Kafka, eine weißen Kittel an und stand vor einem Supermarkt. Über ihm leuchtete das Supermarktlogo gelb und dahinter stand sein Nachname. Er war also der Filialleiter und jetzt winkte er mir zu. Ich hatte es sehr eilig, war auf dem Weg zum Flughafen und hatte ziemliche Angst, dass ich zu spät komme und das Flugzeug verpasse. Auch fragte ich mich gerade, ob ich mein Ticket dabei hab. Sein Winken ignorierte ich und eilte weiter, wollte gar nicht mit ihm sprechen, er wirkte mit seinem dicken Bauch, seinem weißen Filialleiterkittel und einem Schnurrbart richtig eklig, ich musste ja zum Flieger und jetzt wusste ich nicht einmal, wo mein Ticket ist. Er winkte weiter wie in Zeitlupe und rief dann auch noch: "Ich hab heute Springbrötchen im Sonderangebot, Springbrötchen, die magst du doch so gerne, komm, ich schmier dir eins, mit dick Butter und Kinderwurst, und dann schreiben wir um die Wette." Ich tat so als hätte ich nichts gehört, obwohl ich wusste, dass er wusste, das ich ihn gehört hatte, aber ich tat so als hätte ich ihn nicht gehört und ging einfach weiter. Dann stand da plötzlich meine Oma und rief rüber: "Komm her, Ullemann, ich schmier dir ein Springbrötchen mit dick Butter und Kinderwurst." Da hielt ich gehorsam inne, kam nicht weiter. Ich war wirklich spät dran, musste zum Flughafen und da noch durch alle Kontrollen, fand meine Tickets nicht und jetzt fiel mir auch noch auf, dass ich meinen Koffer gar nicht dabei hatte. Ich konnte nicht mehr zurück in meine Wohnung und den Koffer holen, dann würde ich garantiert den Flug verpassen. Meine Oma redete weiter auf mich ein und wollte mir ein Springbrötchen machen mit dick Butter und Kinderwurst. "Danach können wir zusammen eine Patience legen oder Mensch ärgere dich nicht spielen", versuchte sie mich weiter zu locken. Ich war richtig verzweifelt und stotterte: "Oma, ich hab gerade überhaupt keine Zeit, ich muss zur Schule, wir schreiben einen Deutschaufsatz." "Das ist ja schade, dass du keine Zeit für deine Oma hast, die dir immer soviel Taschengeld gibt." Ich rannte aber jetzt einfach weiter, kam am Ortsausgangsschild vorbei, da stand Osnabrück rot durchgestrichen, ich rannte weiter Richtung Flughafen und sah schon von weitem ein Ortseingangsschild, da stand Osnabrück drauf, als ich direkt davor stand, war es ein Spiegel und daneben stand der Osnabrücker Oberbürgermeister Boris Pistorius. Hatte Puma Fußballschuhe an und natürlich sein lila VFL-Trikot. Sah streng auf mich herab. "Reiß dich gefälligst mal zusammen, du Nichtsnutz, kriegstüchtig musst du werden, du fauler Faulenzer, hältst dich wohl für was Besseres, hochnäsiger eingebildeter Möchtegern." Ich schrie ihn an: "Was soll das? Du hast mir gar nichts zu sagen. Ich kann machen, was ich will." "Von wegen. Solange du hier wohnst, hast du gefälligst..." Da grätschte meine Lieblingsdeutschlehrerin Frau Dreiling von hinten dazwischen mit wehendem schwarzen Haar, das ich so mochte, aber vor allem mochte ich dieses braune Cordsakko mit den wildledernen Ellenbogenschonern, das sie immer trug, auch jetzt: "Lassen Sie meinen Schüler in Ruhe, was hat er ihnen denn getan, er ist ein sensibler junger Mann, komm her Ulrich, setz dich hierhin und schreib deinen Aufsatz über die Todesfuge zu Ende." Das war nun zu viel für mich, ich fing heftig an zu weinen, weil mir ALLES so schrecklich leid tat und ich auch so wütend war und nicht mehr weiter wusste und meinen Flieger ganz bestimmt nicht mehr bekommen würde und auch meine Schulsachen gar nicht dabei hatte und bestimmt sitzen bleiben würde, weil ich so vergesslich bin, als sich Frau Dreiling plötzlich in Luft auflöst und Boris Pistorius ganz verdutzt da steht und stammelt: "Dafür kann ich aber nichts." Ich renne zurück nach Hause, klingele sturm an der Haustür. Durch die Milchglasscheibe sehe ich schon meine Mutter näher kommen und als sie die Tür öffnet, gibt sie mir eine schallende Ohrfeige und schreit: "Warum kommst du so spät? Hör auf zu träumen und pack gefälligst die Spülmaschine aus."

 

In meinem Bücherregal steht ein Traumdeutungsbuch, da hab ich schon lange nicht mehr reingeguckt, aber an diesem Sonntagvormittag schon. Da steht zu Verspätung: "Verspätung zeigt meist die Neigung, sich vor Entscheidungen zu drücken und Angelegenheiten vor sich her zu schieben. Dadurch verpasst man viele große Chancen, die das Leben zu bieten hat. Allgemein kann sie für einen zögerlichen, von unnötigen Skrupeln geplagten, willensschwachen und unsicheren Menschen stehen." Und zu Ohrfeige: "Ohrfeige zeigt oft, dass man für eigene Fehler die Rechnung präsentiert bekommt."

 

[G&GN-Zwischenfrage: Cool, aber echte Antworten auf die 7 kommen noch, ja?]

 

Nun, das war schon eine echt echte Reaktion, eine ernsthafte Rückäußerung, als Erwiderung gemeint, gefühlt, geträumt, kam aus tiefen Tiefen, nicht auf der sachlichen Sachebene erdacht und formuliert, eben etwas verrückt, was literarisch Schreibende ja tendenziell so an sich haben, Sachverhalte zu verrücken. Also war der Traum, der in Wirklichkeit zwei Träume war in zwei aufeinander folgenden Nächten, so waren also diese Träume zutiefst impertinent-elegische Geschöpfe einer bis in diese Bewusstlosigkeit ragenden Erschöpfung meiner selbst als Bearbeitung der Nahbellfragen 7, vielleicht sogar als Reflex auf alle bisherigen Nahbellfragen, denn diese beschäftigen mich seit Wochen intensiv, konfrontieren mich mit meinem schriftstellerischen Werden und den Vergehen, sind eine nicht immer angenehme Erinnerungsarbeit, wühlen mich auf, nehmen mit, gehen nahe, heizen mir ein, bedrängen mich, Sprache zu finden, eine sekundärliteraturwissenschaftliche Nebensprache, eine fremde Sprache, für alle Hintergründe, Dimensionen, Bedeutungen, für das Wesen meines Schreibens. Diese Auseinandersetzung ist zurecht beabsichtigt und erforderlich, muss ich mich als Nahbellhauptpreisträger schließlich kompetent und würdig verweisen, insofern lasse ich mich gern mit Leib und Seele ein auf diese möglichst alles erhellende Ausleuchtung meiner Schreibperson. Wie ja der aufgeschriebene Traum auf seine Weise ausdrückt, war der Einfluss meiner Herkunftsfamilie, also insbesondere der meiner Eltern, auf mich als heranreifender Literat heftig. Dass ich schrieb, hat mein familiäres Umfeld wohl wahrgenommen, gewürdigt aber nicht. Geduldet, ertragen als Spleen, Marotte, die sich wieder auswächst. Insofern hat sich in mich eine aufmüpfige Trotzigkeit eingefressen, aber auch eine tiefe Verunsicherung, auf keinen Fall ein stabiles Empowerment. Selbstredend behandeln meine Texte das im Grunde ausdauernd, metaphernschwanger, hermetisch, schwierig, artifiziell, konnotationsbeladen. Ist ja klar. In Westberlin hab' ich nur bis zur Maueröffnung Ende '89 gelebt. Und zwar in Spandau, was fast so war, als würde ich noch in Osnabrück leben, nur eben ganz nah an der Großstadt, die ich in einer Dreiviertelstunde mit S-Bahn erreichen konnte. Danach bin ich nur noch einmal in Berlin gewesen, so ungefähr Mitte der 90er zu einer Lesung im Tacheles (Anm. G&GN: es war 1998 im Rahmen der Objektlyrik-Ausstellung), zu der du, lieber Tom, mich eingeladen hattest, danach fast 20 Jahre nicht mehr. Ich hatte also keinen Kontakt zur Lyrikszene um den Prenzlauer Berg, war ja sowieso immer Alleingänger, bin ungesellig, hab' sehr reduziert soziale Kontakte, literarisch-kollegiale Vernetzung fand und findet überwiegend auf Distanz statt, früher per Briefverkehr, heute digital-virtuell. Was verbindet mich mit Osnabrück? Heimatgefühle? Eventuell. Ich bin mit diesem Ort verbunden und ich bin mit ihm vertraut, kenne hier jeden Winkel und jedes Gesicht, vielleicht hab' ich sogar das Gefühl von Verwurzelung und Identität, was ich am wenigsten wahr haben möchte, weil die Stadt drittklassig ist und total kleinbürgerlich spießig. Also hat sie Minderwertigkeitskomplexe, mit denen sie genauso verkorkst hantiert wie ich. (Für jene, die bis jetzt nicht drauf gekommen sind, sei noch verraten: Dass ich im Zusammenhang mit Osnabrück immer die HASE erwähne, ist meine Hommage an Joseph Beuys). Nun habe ich folgsam hoffentlich echt genug geantwortet und richtig, ehrlich war der Traum noch mehr und ernsthaft und wahrhaftig. Ach so: Mein ehemaliger Klassenkamerad ist tatsächlich Supermarktbesitzer geworden. Nach dem Abschluss der Grundschule wechselte er auf eine andere Schule, die sich mehr auf naturwissenschaftliche Fächer spezialisiert hatte. Da entdeckte er neue Interessen, engagierte sich aber in der Schülerzeitung. Nach dem Schulabschluss entschied er sich für eine Ausbildung im Einzelhandel und begann als Verkäufer in einem Supermarkt. Ziemlich schnell wurde er dort aufgrund seiner Kommunikationsfähigkeiten und Einsatzbereitschaft zum stellvertretenden Filialleiter. Er arbeitete weiter hart und zeigte viel Geschick im Umgang mit den Kunden und im Teamwork. So wurde er dann schließlich zum Filialleiter befördert und nun ist er also der stolze Filialleiter eines erfolgreichen Supermarktes, der ein motiviertes Team führt und zufriedene Kunden hat. Es lässt sich behaupten, dass seine Fähigkeiten im Schreiben die Grundlage für den beruflichen Erfolg gelegt haben.

 

08. Nahbellfrage

 

Welche künstlerischen Projekte stehen in der nächsten Zeit bei Dir an? Veröffentlichst Du eigentlich in der neueren Zeitschriftenszene? Bewirbst Du Dich für weitere Preise? Wird Dein zweiter Einzelband wieder Lyrik enthalten oder andere Textformen? Hast Du einen Plan oder eine Vision für Deine Werke, wohin Du bis zu Deinem Lebensende steuerst? Und wie lässt sich der Aufwand für die Kreativität mit Deinem Lebensalltag vereinbaren? Bist Du beruflich stark eingespannt oder hast Du genug Zeit und Kraft, um allen Inspirationen nachzugehen?

 

08. Nahbellantwort

 

Die Problematik von Kunstschaffenden, nicht von ihren kreativen Tätigkeiten leben zu können und daher einen Brotberuf ausüben zu müssen, ist ja eine weitverbreitete Gegebenheit, genau genommen Normalität, denn wohl nur etwa zehn Prozent aller freischaffenden Künstlerinnen und Künstler bestreiten den Lebensunterhalt ausschließlich durch ihre Kunstproduktion, ein relativ geringer Anteil. Die Mehrheit muss auf zusätzliche Einnahmequellen zurückgreifen, wie eben einen Brotberuf oder Nebenjobs, Auftragsarbeiten, Lehrtätigkeiten, Stipendien, Ehepartner, Mäzene, Erbmassen. Das dadurch verursachte Spannungsfeld zwischen kreativer Leidenschaft und notwendigem Broterwerb durchzieht auch meinen Lebenslauf konstant und führt immer wieder zu diversen inneren und äußeren Konflikten. Oft habe ich es so empfunden und werde es sicher bis zu meinem Renteneintritt mehr oder weniger weiter erleben, dass in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Gelderwerbs meine kreative Energie eingeschränkt, manchmal gar erstickt wird, dass sie zu einer Entfremdung führt mit meiner künstlerischen Identität und privaten Integrität, massive Selbstzweifel schürt, ein ständiges unzufriedenes Hadern verursacht mit dem frustrierenden Gefühl, allem nicht gerecht zu werden, weder meinem Lehrerberuf, noch meinem literarischen Werk, beides nur halb und deshalb schlecht zu machen. Dieser Zwiespalt hat auch schon dazu geführt, dass ich kurzzeitig aus der Textproduktion ausgestiegen bin und vermutlich bewirkt das schwer auszuhaltende Dilemma, dass viele talentierte Künstlerinnen und Künstler letztendlich ganz aus der Kunstwelt ausscheiden und ihre kreative Karriere aufgeben. Ich mache zuversichtlich weiter, beabsichtige noch zwanzig Jahre gesund und munter zu leben und das ist eine Menge Zeit, um Bücher zu schreiben, zu veröffentlichen und mich als Autor zu präsentieren, auf Lesungen meine Texte vorzutragen, Preise einzuheimsen, Gedichte in Literaturzeitschriften zu veröffentlichen undsoweiter. In der nächsten Zeit steht bei mir die Fertigstellung eines zweiten Einzeltitels an, der im Herbst erscheint. Einzelheiten werde ich zu gegebener Zeit mitteilen. Ganz ganz vielen Dank nochmal jetzt hier an dieser Stelle, lieber Tom, für Anerkennung und Respekt durch diesen Preis, meinen allerersten, der mir sehr sehr viel bedeutet, weil er nicht einem literaturbetriebswirtschaftlichen Kalkül und ökonomischen Algorithmen entspringt, sondern deiner Leidenschaft. Liebe & Frieden. Küsschen.