1970-1985
Geboren am 2.2.1970 in Esslingen. Aufgewachsen bei den Großeltern. Realschule. Zwischen 1982-85 erste Versuche, eine Band zu gründen sowie eigene Fanzines/Magazine (eins fürs
Wohngebiet, eins über Katzen) herauszugeben.
1986-89
Nach Realschule: Lehre zum Schriftsetzer. Fun-Punk-Band (Das Problem) sowie Sleaze und Glam Rock (Afraid, The Marvelous Love Cats). Erste Spoken-Word-Performances, Collagen und Experimente mit
der Cut-Up-Methode, dabei Entwicklung des Shift-Cut-Ups (u.a. auf Grundlage von Texten von Whitman ("Leaves of Grass"), Leary ("Neurologic") und LaVey ("Satanic
Bible"), um gleichsam zufällige Betonungen zu generieren.
1990-1994
Zivildienst. Im Anschluss Berufskolleg. Weiterer Versuch einer längerfristigen Bandgründung (Projekt aufgrund des gemeinsamen Freitods zweier Mitglieder beendet). Hinwendung zu Elektronischer
Musik, Dub, Industrial.
1995-1999
Umzug nach Duisburg. Studium der Sozialwissenschaften. Hierbei tätig u. a. im Fanprojekt (MSV). Bekanntschaft mit Gerd Dembowski (diverse gemeinsame Buchprojekte). Publikationen zur Fankultur,
zur Lebensreform- und Arbeiterkulturbewegung sowie Gedichte. 1996-1998 Mitherausgeber des Fanzines "Blutgrätsche". 1998 Gründung der Wickie Dub Band (Musik in Kombination mit Lesungen,
u. a. mit klassischen Texten von Nikolaus Lenau und Ernst Ortlep sowie moderner Lyrik, z. B. Peter Rühmkorf). 1998/99 auf den Spuren von Friedrich Hecker (Badische Revolution 1848) im Rahmen der
Herausgabe einer Ausgabe von Hecker-Schriften.
2000-2005
Bekanntschaft mit Boris Kerenski (seither ab und an gemeinsame Arbeiten), Axel Monte und Jürgen Ploog. Satirische Texte zu Medien und Popkultur (Lesetouren mit Gerd Dembowski) sowie das Projekt
"Klangmaschine" (Lesetouren mit Marcus S. Kleiner und Gastmusikern, 2002 Hörspielversion für den WDR unter dem Titel "Diskurs-Ende-Leben"). Dokumentarfilm "Das Andere im
globalen Dorf" (mit Marcus S. Kleiner und Bernd Kalus).
2006-2013
Bereits während und dann nach dem Studium Arbeit an der Uni (promotionsvorbereitende Studien, Verwaltung, Seminare, später Abwicklung der Diplom-Studiengänge). Vorträge zum Thema
Utopie/utopisches Denken. Weiterhin Publikationen in Undergroundmagazinen. 2013 Geburt eines Sohnes.
2014-2020
25.Bühnenjubiläum mit Gästen und einem dokumentarischen Reader. Jobwechsel: Arbeit bei einem Düsseldorfer Bildungsunternehmen (Wirtschaftsschule Paykowski). Weitere Publikationen zum Thema
Utopie/Heterotopie, Essays, Lyrik und Cut-Ups, Lesungen (u. a. mit Lütfiye Güzel und Hermann Borgerding). Recherchen und Besuch von Orten, an denen der Pirat Klaus Störtebeker gewirkt haben soll,
für eine Störtebeker-Antholgoie.
2021 bis heute
Jobwechsel: Arbeit beim Integrationsfachdienst in Duisburg (IFD), Lesungen (u. a. mit Silke Vogten). Aktuell Arbeit an "Die gewöhnliche Zärtlichkeit für die Dinge"
(Lyrik) und "Teufel auch! Notate aus der Hölle" (kurze Texte und Gedanken zum Fauststoff, Black Metal, Satanismus, Vampire, Horror, Politik usw.)
01.NAHBELLPREISFRAGE
Lieber Marvin, dass Du den Nahbellpreis erhältst, ist ja längst überfällig, aber erst dieses Jahr kommt es endlich zum Showdown - mein herzlichster Glückwunsch zum 26.
Nahbellhauptpreis im Jahre 2025. Gleich zu Beginn muss ich Dir etwas gestehen, was mir beim letzten Gewinner (Ulrich Jösting) ähnlich erging: mit ihm und Dir verbindet mich ja eine
freundschaftliche Kollegialität, eine persönliche Ebene, durch die sich der Respekt vor unseren unterschiedlichen Stilen automatisch verstärkt. Aber ich habe einige Jahre bei Euch benötigt, um
mich an Eure Stile zu gewöhnen und sie auch selber zu mögen, vielleicht auch sogar ein bisschen zu "verstehen", insofern man das überhaupt kann: einen Anderen wirklich verstehen. Will sagen: ich
tat mich anfangs sehr schwer mit Deinen Gedichten, weil sie so rau (fast wie nebenbei hingerotzt!), unliterarisch, antipoetisch sind und ganz und gar nicht "gefällig" daherkommen. Gerade die
extrem knappen reißen ein Thema nur kurz an und entlassen den Leser mit dem Gefühl der schallenden Ohrfeige (oder Zenpeitsche!) und dem Wissen, dass es jetzt hundertmal mehr noch zum Thema zu
sagen gäbe. Aber da bist Du schon fertig und knallst es einem einfach als Gedicht hin! Und genau das weiß ich mittlerweile zu schätzen und empfinde es als genial! Du
bringst die Sachen auf den Punkt und verzichtest auf stilistische Beschönigungen! Dadurch wirken Deine Gedichte noch dreckiger, kritischer und brutaler als Brecht und Bukowski, um mal zwei der
berüchtigsten Vertreter antipoetischer Ansätze zu erwähnen. Kannst Du Dich an Dein allererstes Gedicht erinnern? Wann es entstand und warum? Und kannst Du uns Dein ältestes erhaltenes
Gedicht im Vergleich zu einem topaktuellen rezitieren?
01.NAHBELLPREISANTWORT
Ein ganz herzliches Dankeschön, Tom! Ich freue mich in der Tat sehr darüber. Vor allem darum, weil sich unter den bisherigen Preisträgern einige Leute finden, deren Arbeiten ich sehr schätze und
deren Texte mich ebenfalls bereits über Jahre begleiten. Anscheinend bin ich hier richtig. Zur Frage des Stils hast Du meines Erachtens das Wesentliche bereits gesagt: erst ist es befremdlich,
dann gewöhnt man sich langsam daran, gegebenenfalls gefällt es einem schließlich. Kurz, man nähert sich einer Sache quasi an. Ob im Zuge einer Annäherung wirklich alles verstanden werden kann
oder gar muss, weiß ich nicht. Mir persönlich fällt es häufig schwer, für das, was ich verstanden habe, auch Verständnis aufzubringen. Insofern bevorzuge ich
das offene Ende und begnüge mich damit, ein wenig Verwirrung zu stiften. Das ist Teil des Spiels, das gehört dazu. Ebenso, dass Gedichte - insbesondere die knappen - vollkommen "rau"
oder wie "nebenbei hingerotzt" erscheinen. Entscheidend ist der Effekt. Drei Kurze knallen mitunter mehr rein als drei gepflegte Glas Bier. Bei Gedichten ist das ähnlich. Letztlich
geht's darum, was ein Gedicht in Gang zu setzen vermag, welche Wirkung es entfaltet. Allerdings haben derartige Fragen bei meinen ersten Schreibversuchen kaum eine Rolle gespielt.
Zu Beginn war die Herangehensweise mehr oder weniger eine rein intuitive. So auch bei meinem ersten Gedicht, von dem Du wissen wolltest, ob ich mich daran erinnere. Daran erinnere ich mich in der
Tat sehr gut sogar. Zum einen deshalb, weil dem ganzen die Erinnerung an einen Traum zugrunde liegt und zum anderen, weil es das erste Gedicht gewesen ist, das ich auf einer elektrischen
Schreibmaschine versucht habe irgendwie in Form zu bringen. Das muss somit um die Mitte der 1980er Jahre gewesen sein, da hatte ich die besagte Schreibmaschine von meinen Großeltern geschenkt
bekommen. Das Gedicht trägt den Titel "Brennende Finsternis" und lautet wie folgt:
Brennende Finsternis
& als ich meine Hand in die Finsternis streckte
da spürte ich Kälte und ein Gefühl
wie Angst
Ich ballte meine Hand
zur Faust & zog sie zurück
Ich betrachtete die Faust
& öffnete sie
& da stand auf meiner Hand ein kleiner Silen
scharrte mit der Hufe & sagte
Danke
Wieder spürte ich Angst
& streckte die Hand zurück in die kalte Finsternis
& ich hörte Stimmen & es wurde heißer & heißer
& langsam verlor ich meine Furcht
ganz langsam
bis meine Hand
verbrannte
& mit ihr der kleine Silen
Ursprünglich sollte der Text Teil einer Collage werden, aber dazu ist es nie gekommen, die Idee hatte ich recht schnell wieder verworfen. Stattdessen ist das Gedicht in der Schublade, konkret: im
Schuhkarton, gelandet. Na, und dort verblieb es dann auch gute zwanzig Jahre lang. Nachdem ich auf der Suche nach Material für eine Dokumentation das Gedicht 2013 schließlich wieder ausgekramt
hatte, nahm ich mir vor, es irgendwann einmal komplett zu überarbeiten. Eine Neufassung ist dann 2019 in die zweite, erweiterte Ausgabe der "Logik der Verführung" mit aufgenommen worden.
Aus "Brennende Finsternis" wurde "Brennendes Dunkel", der kleine Silen wurde durch einen kleinen Alp ersetzt, der Text gestrafft usw. Ob es Sinn macht, ein so altes Gedicht wie
"Brennende Finsternis" mit einem "topaktuellen" Gedicht vergleichen zu wollen, wage ich allerdings zu bezweifeln. Das sind zwei paar Stiefel. Das brandaktuellste Gedicht ist -
natürlich - ein kurzes und trägt den Titel "Böses Erwachen". Es basiert auf einer berühmten Aussage von Simone de Beauvoir über die Frau. Ich habe diese Aussage aufgegriffen und
lediglich etwas abgewandelt.
Böses Erwachen
Man wird
Nicht als Teufel
Geboren
Man wird
Es
Mag sein, dass das auf den ersten Blick so rüberkommt, als sei's nebenbei niedergeschrieben worden, tatsächlich aber hat's ne gute Weile gebraucht, bis das Gedicht die Form erhalten hat, die es
jetzt hat. Ein Wort musste gefunden werden, dass dem Prozess einer Bewusstwerdung Ausdruck verleiht ("Erwachen"). Das "Es" am Schluss galt es so zu platzieren, dass
Assoziationen sowohl zur Funktion des Unbewussten nach Sigmund Freud als auch zum Horrorclown Pennywise aus Stephen Kings Roman "Es" gesponnen werden können. Manchen Leuten fällt es
sicher leicht, sowas auf die Schnelle zu zimmern, ich hingegen brauche da einfach mehr Zeit und vor allem Ruhe.
02.NAHBELLPREISFRAGE
Wenn Du Zeit und Ruhe zum Dichten benötigst, wann hast Du die? Gibt es typische Settings, in denen Du besonders leicht kreativ wirst? Würdest Du Deine persönliche Herangehensweise
anderen empfehlen, wenn sie z. B. unter einer Schreibblockade leiden? Und noch was anderes: welche literarischen Vorbilder hast Du eigentlich und warum?
02.NAHBELLPREISANTWORT
Oha, wo fang' ich da am besten an? Bekanntlich hat Umberto Eco die Frage nach der Zeit zum Schreiben ebenfalls einmal zu beantworten versucht. Dabei hat er akribisch alles mit einbezogen, was im
Alltag so anfällt: Frühstück, Mittag- und Abendessen, Körperpflege, Schlafen, Sex, Hausarbeit, Einkäufe oder Zeitung lesen. Dazu seine Vortragsreisen, die Vorlesungen und Seminare, Recherchen und
Vorbereitungen, Arbeitskreise, Prüfungen, gesellschaftliche Verpflichtungen usw. Eco kam zu dem Ergebnis, dass er seine Bücher gar nicht geschrieben haben kann, da fürs Schreiben gar keine Zeit
vorhanden ist. Das Thema ist müßig, wie's scheint. Was mich angeht, da spielt die Textsorte eine Rolle. Ich schreibe ja nicht ausschließlich Gedichte sondern auch Artikel und Essays oder
Sachbücher, wobei häufig strenge Terminpläne oder Abgabefristen einzuhalten sind. In meinem Fall sind da Deadline und Zeitdruck häufig sehr hilfreich, um überhaupt in die Pötte zu kommen. Bei den
Gedichten ist das anders, da benötige ich nicht nur die notwendige Zeit, sondern auch die besagte Ruhe, wenn's daran geht, alles ins Reine zu schreiben, zu überarbeiten, auszuformulieren usw.
Termine spielen hier zwar wenig bis gar keine Rolle, spätestens im Korrekturlauf muss ich mich jedoch zügeln, um nicht in Versuchung zu geraten, alles wieder umzuwerfen und umzuformulieren.
Rituale pflege ich in der Regel keine beim Schreiben. Rauchen ausgenommen. Auch favorisiere ich keine bestimmte Tageszeit oder so. Ausschlaggebend ist lediglich die Gewissheit, für eine bestimmte
Zeit außen vor sein zu können, alleine, vollkommen ungestört. Bei Schreibblockaden hat sich bei mir der Abbruch bewährt, kurz: einfach die Arbeit vorerst einstellen, gegebenenfalls was anderes in
Angriff nehmen. Kommt Zeit, kommt Rat. Ob's als Empfehlung taugt, sei dahingestellt. Weitaus leichter hingegen fällt es mir da, über meine Helden oder Vorbilder zu sprechen. Da wäre zuerst
Christoph Derschau und sein Gedichtband "Den Kopf voll Suff und Kino" zu nennen. Dieses Buch hat mich seinerzeit umgehauen. Bereits die Aufmachung der Gedichte, mit handschriftlichen
Korrekturen und Verweisen, mit Anmerkungen und Schnappschüssen dazwischen und dann das alles auf rosa Papier. In einem vorangestellten fiktiven Gespräch wurde über Foucault und die Funktion des
Autors diskutiert, es gab Bezüge zum Surrealismus und zur Pataphysik. Das alles war neu für mich und öffnete Welten. Gedichte wie Spaziergänge machen, das war Derschaus Motto. Ein durchaus
vorbildlicher Gedanke, wie ich fand. Ein weiterer Autor, dessen Gedichte prägend für mich gewesen sind, ist Richard Brautigan. Das war die Messlatte. Er wies die Richtung. Für ein gutes Gedicht
benötigte er oft nicht mehr als drei Worte. Klar, die knappe Form ist nicht auf seinem Mist gewachsen. Brautigan hatte ein Faible für japanische Kultur und orientierte sich mitunter an der
Tradition japanischer Poesie wie beispielsweise Senryū oder Haiku, also an sehr kurzen und knappen Gedichtformen. Nicht dass er die Techniken und Regeln einfach übernahm, nein. Er verfeinerte
diese. Und schuf damit etwas neues, einzigartiges. Kurz und gut: Derschau und Brautigan sind wohl die beiden Autoren, die am nachhaltigsten Eindruck auf mich gemacht haben. Gewiss gibt's da noch
eine Reihe weitere Vorbilder. Im Arbeitszimmer jedenfalls steht eine Dante-Büste im Regal und an der Wand hängt ein Bukowski-Portrait in Form einer Farbradierung. Insofern scheint die Palette
breit gefächert.
03.NAHBELLPREISFRAGE
Haben die Themen Deiner Gedichte mit den Themen der Sachbücher zu tun? Gibt es da Überschneidungen oder gegenseitige Beeinflussung während der Arbeit? Und woher nimmst Du überhaupt
die Inspiration? Entstehen Deine Gedichte auch als Auftragsarbeiten? Sind freie Gedichte genialer als beauftragte?
03.NAHBELLPREISANTWORT
Überschneidungen oder Beeinflussungen kommen mitunter vor, klar. Ich bin Co-Autor einer Einführung in die sozietäre Theorie von Charles Fourier und Mitherausgeber eines Essays von ihm über den
Handel. Von Fourier habe ich viel gelernt. Aspekte seines Denkens haben meine Ansichten mitunter geprägt und bereichert. Entsprechend lassen sich in dem einen oder anderen Gedicht auch
Anspielungen auf seine Theorie oder Zitate von ihm finden. Ich habe auch ein kleines Buch über große Brüste geschrieben und gewiss gibt es Gedichte, in denen Brüste ebenfalls eine Rolle spielen.
Einem Motiv oder Thema kann ich mich kulturhistorisch oder theoretisch nähern, ebenso lässt sich ein Motiv oder Thema auch lyrisch oder poetisch betrachten.
Für welche Form ich mich entscheide, hängt letztlich von der Fragestellung ab, davon was das Thema hergibt. Fausts Höllenfahrt zum Beispiel. Wann und wo fand die statt? Die
widersprüchliche Überlieferung bietet reichlich Stoff für einen Aufsatz oder für ein Kapitel in einem Buch. In diesem Fall schien mir ein wahrhaft verteufeltes Gedicht, in dem die mutmaßlichen
Orte des Geschehens gelistet werden, jedoch die pfiffigere Variante zu sein. Das Gedicht beginnt mit dem gemeinhin populärsten Ort, an dem der Teufel sich Faust vermeintlich krallte, und endet,
quasi als Pointe, mit einem Städtchen, in dem Faust gar zweimal gestorben sein soll. Was nun die Wahl des Motivs oder des Themas, also die Quelle der
Inspiration, angeht: da kommt grundsätzlich alles in Frage. Alles kann zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. In meinem Fall sind das häufig die naheliegenden Dinge, der alltägliche
Kleinkram, wie Derschau das nannte. Auftragsarbeiten im strengen Sinne des Wortes gab's bisher noch keine, nein. Lediglich die üblichen Anfragen, ob ich was für eine Anthologie
oder eine Zeitschrift beisteuern könne. Sofern's passt, greife ich in solchen Fällen in der Regel auf bis dato unpubliziertes Material zurück. Insofern fällt es mir schwer zu beurteilen, ob ein
freies Gedicht genialer ist als ein beauftragtes. Als jemand, der schreibt, würde ich aus dem Bauch heraus sagen: nein. Als Leser hingegen könnte ich nur raten, wie's entstanden ist.
04.NAHBELLPREISFRAGE
Warst Du schon als Kind "auffällig" oder "schwierig", wie man das von Kreativlingen häufig hört? Ließ sich Dein Sprachtalent schon im Deutschunterricht erahnen oder warst Du ein
literarischer Spätzünder? Wie stehen deine Eltern zu Deiner Schreiberei? Haben sie sich Sorgen gemacht? Was würdest Du Eltern mit künstlerisch begabten Kindern empfehlen? Ist unsere Gesellschaft
zu bieder, konservativ, verständnislos im Umgang mit Kulturschaffenden, besonders mit eher progressiven, tabulosen wie Dir?
04.NAHBELLPREISANTWORT
Nein, als Kind war ich wohl weder auffällig noch schwierig - nicht aus meiner Sicht jedenfalls. Schwierig wurde es später erst. Ich bin bei den Großeltern aufgewachsen und hatte da gewiss weitaus
mehr Freiheiten als andere Kinder sie damals so hatten. In Deutsch war ich recht gut. Mehr aber auch nicht. Sicher, da Oma die Einkaufszettel noch in Sütterlin schrieb, konnte ich zudem Sütterlin
lesen und schreiben. Das war's dann auch an Talent. Als es los ging mit den ersten Texten, hat sich aus dem Familienkreis erstmal niemand groß dafür interessiert. Zu meiner Mutter hatte ich ja
ohnehin kaum und zu meinem Vater einen zwar regelmäßigen, jedoch äußerst lockeren Kontakt. Sorgen hat sich da niemand gemacht. Und Oma und Opa ließen mich halt machen. Publikationen wurden da
zwar zur Kenntnis genommen, nicht aber gelesen. Damit konnten sie nix anfangen. Von daher kann ich Eltern von künstlerisch begabten Kindern nur empfehlen, es so zu halten wie meine Großeltern:
alles ermöglichen, niemals reinquatschen. Sicher wird Kunst weiterhin auf Verständnislosigkeit stoßen. Gleichsam haben sich die
Voraussetzungen für Kunst stark verändert. Das Problem dabei ist meines Erachtens nicht, ob die Gesellschaft konservativ oder gar bieder ist, was offensichtlich zutrifft, oder ob sie in
bestimmten Bereichen gar progressiv und tabulos ist, was gleichsam zutreffen mag. Das Problem vielmehr ist, dass wir in verdammt wirren Zeiten leben, in denen sich Fort- und Rückschritt mehr und
mehr bis hin zur Unkenntlichkeit zu verstricken scheinen.
05.NAHBELLPREISFRAGE
Hat denn Kunst, im speziellen Poesie, heutzutage eine besonders gesellschaftskritische Verantwortung aufgrund dieser verwirrenden Verstrickung? Sollte Kunst die Komplexität der Welt
aufdröseln, versimpeln (wie es Yoko Ono zu Überlebenszwecken behauptet) und zu dekorativen Zwecken auf einen verdaubaren Unterhaltungswert runterbrechen? Landen wir dann automatisch bei Comedy-
statt engagierter Clubliteratur, wie sie von einem Hadayatullah Hübsch vorgelebt wurde, wenn er in einer
Diskothek zynisch "arbeiten arbeiten arbeiten" pamphletierte, und wie sie von Clemens Schittko fortgeführt
wird? Wie siehst Du Deine eigenen Ultrakurzgedichte im Lichte dieser Frage? Sie sind ja durchaus "lesbar" (weil die Dichte an Konnotationen sehr feinsinnig unsichtbar bleibt - im Gegensatz zu
wirklich unlesbaren, also "schwierigen" Gedichten eines HEL ToussainT, deren atemlose Anspielungen den Leser
geradezu erschlagen!), aber trotzdem nicht "leicht" oder gar Literatur "light", womit sich Tanja 'Lulu' Play
Nerd in einem Gedichttitel bei der Lyrikzeitung auseinandersetzte...
05.NAHBELLPREISANTWORT
Nun, die Frage nach einer wie auch immer gearteten gesellschaftskritischen Verantwortung ist ja nicht neu. Und klar, wünschenswert wäre es, wenn Versimpelung und Aufdröselei mit dazu beitragen,
den Blick aufs Wesentliche zu schärfen. Allerdings halte ich die ganzen Debatten über das Verhältnis von eingreifender und ergriffener Kunst oder Literatur, so wie sie seit den 1970er geführt
wurden, inzwischen für obsolet. Ein Allen Ginsberg oder in der Nachfolge in gewisser Weise auch noch ein Hadayatullah Hübsch konnten ihre Anklagen einer
Gesellschaft entgegenschleudern, die ihren eigenen Versprechen und Ansprüchen nicht gerecht wurde. Heute gibt's keine Versprechen mehr. Keiner, der halbwegs bei Verstand ist, glaubt mehr daran,
dass es den Kindern oder Enkeln einmal besser gehen wird. Im Gegenteil. Auch haben subversive Strategien und Techniken, die einst funktioniert haben mögen, im digitalen Zeitalter ihre Sprengkraft
längst verloren. Was mich angeht, ich äußere mich in Gedichten kritisch oder polemisch lediglich dann, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Diskurs aus dem Ruder zu laufen droht
oder offenkundig Mist verzapft wird. Also wenn etwa jemand leugnet, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, dann setze ich ihn eben mit einem Ticket 2. Klasse in den nächsten Zug nach
Frankfurt am Main. Egal, wie viele Zeilen hierfür notwendig sein mögen. Ob Texte per se "lesbar" sein müssen, denke ich allerdings nicht. Sicher gibt's Autoren, die bewusst gefällig
schreiben, um ein größeres Publikum zu erreichen, weil sie amüsant oder unterhaltsam sein wollen. Andere fürchten sich vielleicht davor, nicht verstanden oder rasch als arrogant und elitär
abgestempelt zu werden. Ich persönlich kämpfe mich gern auch durch komplexere Texte, folge den Anspielungen etc. Ich mag das Geheimnis, die Spurensuche, die
Wortalchemie. Literatur "light" meide ich in der Regel daher ebenso wie Cola ohne Zucker oder alkoholfreies Bier.
06.NAHBELLPREISFRAGE
Welches ist Deiner eigenen Meinung nach Dein BESTES Gedicht und warum - und welches ist Dein KÜRZESTES Gedicht? Wodurch sind sie entstanden?
06.NAHBELLPREISANTWORT
Also, das beste Gedicht benennen zu wollen, scheint mir unmöglich, wohl aber gibt's ein paar Lieblingsgedichte, solche, die einem besonders am Herzen liegen. Unter diesem Gesichtspunkt würde ich
sagen: "Der traurige Lenau". Es basiert, wie's so schön heißt, auf einer wahren Begebenheit. In Esslingen, wo ich aufgewachsen bin, steht ein Lenau-Denkmal, und das Gedicht handelt
davon, wie ich als Kind auf einer Bank vor diesem Denkmal sitze und ein älterer Herr vorbei kommt, der mir erklärt, dass es sich bei dem Denkmal hinter mir um den "traurigen Lenau"
handle. Ob ich denn überhaupt wüsste, wer das gewesen sei, wollte er wissen. Natürlich hatte ich keine Ahnung. Nun, jedenfalls ging mir seither die Rede vom "traurigen Lenau" nicht mehr
aus dem Kopf und irgendwann wollte ich dann einfach wissen, warum der Kerl so traurig gewesen sein soll. Also begann ich damit, mich etwas näher mit Lenaus Leben und Werk zu beschäftigen. Im Zuge
dieser Beschäftigung ist dann das Gedicht entstanden. Eine Antwort darauf, wer der "traurige Lenau" gewesen sei, liefert das Gedicht nicht. Es endet lediglich mit einem stummen Verdacht:
"Bestimmt ein Dichter", wobei unklar bleibt, wer damit gemeint ist, Lenau oder der ältere Herr, der Lenau-Klischees zum Besten gibt. Das kürzeste Gedicht lässt sich da hingegen relativ
einfach benennen. Legt man die Anzahl der Zeilen und die Zeilenlänge zu Grunde, dann müsste das "Homo homini lupus" sein. Dieses Gedicht besteht aus lediglich einer Zeile und die lautet:
"Schön wär's ..." Entstanden ist es, weil die Aussage, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, in der gängigen Lesart meines Erachtens schlichtweg falsch ist. Da erscheint der Wolf
als blutrünstige Bestie, als unberechenbares Raubtier. Das ist im Grunde der böse Wolf aus dem Märchen, mehr nicht. Abgesehen davon, dass Wölfe Menschen für gewöhnlich meiden, handelt es ich bei
ihnen in der Regel um äußerst soziale Tiere, deren Verbände ohne Alphatiere auskommen. Die Bindungen unter Wölfen sind stark ausgeprägt und sie kooperieren untereinander. Das ultrakurze Gedicht
soll also lediglich dazu einladen, eine scheinbare Weisheit bürgerlicher Staatstheorie, die zum geflügelten Wort verkommen ist, ein wenig zu hinterfragen.
07.NAHBELLPREISFRAGE
Dann mal umgekehrt: Dein längstes und Dein schlechtestes Gedicht und warum? Apropos: Wie lässt sich generell "gute" Lyrik definieren? Alles nur subjektiv? Gibt es objektive
Kriterien?
07.NAHBELLPREISANTWORT
Das längste Gedicht kennste, das ist "Hast du das gehört?", eine Gemeinschaftsarbeit für den Poesiesalon.de, das habe ich zusammen mit Boris Kerenski geschrieben. Entstanden ist es zwischen Februar und Mai 2020 als ein Art Produkt der Corona-Pandemie.
Damals waren ja alle Events abgesagt worden, Lesungen konnten nicht mehr wie bisher stattfinden und wie lange sich das alles hinziehen würde, war völlig unklar. Eine Ausweichmöglichkeit bot das
Internet. So kam's zu einer digitalen Premiere. Was das mieseste Gedicht angeht, da kann ich wie bei der Frage nach dem besten Gedicht lediglich im Rahmen der für o.k. befundenen Gedichte wählen,
also jenen, die nicht unmittelbar im Papierkorb gelandet sind. Hierzu zählt zweifelfrei "Tötet Snoopy!"
Tötet Snoopy!
Katzenklo und Kaiserschnitt!
Tötet Snoopy! - wer macht mit?
Ein cooler Köter ist er, kalt wie Eis.
Was'n Quatsch! Wer glaubt den Scheiß?
Überall liegt Hundekot -
Hand aufs Herz: schlagt Snoopy tot!
Der könnt' 'nen Hundskopf kleiner sein,
drum schlagt dem Vieh den Schädel ein!
Schneidet ihm die Schwänze ab,
Schnauze, Ohren, dann den Sack.
Alle Glieder, kurz und klein
schleunigst in die Kiste rein.
Pflock durchs Herz und Knoblauch drauf,
Deckel zu und aus die Maus.
Katzenklo und Kaiserschnitt!
Tötet Snoopy! - wer macht mit?
Kein Meisterwerk, klar. Und doch habe ich den Text gefühlt bereits tausendmal aufgesagt oder gelesen. Da ich das Gedicht weder entsorgen noch umschreiben wollte, entschied ich mich irgendwann
dafür, es in eine Geschichte einzubauen. Der Titel der Geschichte lautet "Rettet Snoopy!" und handelt von einem Hundehasser und einem Hundehalter, die ihren Zwist mitunter in Form von
Gedichten austragen, die sie sich gegenseitig an den Kopf knallen. Erstmals erschienen ist die Geschichte 2009 im Satire-Magazin "Der Metzger" und dann nochmal 2016 mit dem Untertitel
"Ein Nachbarschafts-Report" in der Sammlung "Der Poet als Lumpensammler". Sicher gibt's objektive und formale Kriterien, mit denen sich ein
Gedicht beurteilen lässt. Derartiges lernt man ja für gewöhnlich in der Schule irgendwann anzuwenden. Wie weit man damit kommt und ob's letztlich sinnvoll oder angemessen ist, objektive Kriterien
an ein subjektives Unternehmen anlegen zu wollen, ist eine ganz andere Frage. Schließlich spielen immer auch Intention und Voraussetzungen mit eine Rolle. Weitaus leichter fällt
es mir da, Menschen nach dem Inhalt ihrer Bücherregale zu beurteilen. Ich jedenfalls fühle mich von Gedichten angesprochen, die Veränderung erwirken, von Texten, die etwas in Gang setzen und
Stoff zum Nachdenken liefern. Gedichte dürfen alles, nur eines nicht: langweilen.
08.NAHBELLPREISFRAGE
Stichwort "Langeweile" bzw. Unterhaltungswert: Trittst Du mit Snoopy-Reimen auf Poetry Slams auf? Was hältst Du von dieser Art von Eventliteratur? Was für Gedichte haben auf Slams
überhaupt eine Chance? Kann gute Lyrik live punkten?
08.NAHBELLPREISANTWORT
Ob ich bei Poetry Slams auftrete? Teufel, nein! Weder mit Snoopy-Reimen noch irgendwelchen anderen Texten, solche Wettbewerbe sind nix für mich und sie interessieren mich auch nicht. Konkurrieren
zu wollen, ist nicht mein Ding. Chancen, denke ich, hat da prinzipiell jedes Gedicht, vorausgesetzt die Regeln und Formalitäten werden eingehalten, das vorgegebene Zeitlimit usw. Ob es ausreicht,
dass ein Gedicht gut ist, um live zu punkten, ist allerdings fraglich. Bei derartigen Events geht's ja nicht allein um den Text, es geht da um die gesamte Performance. Dass es da mitunter
großartige Künstler gibt, steht außer Frage. Aber wie gesagt, da hält sich mein Interesse einfach in Grenzen. Für mich hat das den Flair von Stand-Up-Comedy: kann, aber muss nicht.
09.NAHBELLPREISFRAGE
Was sind Deine nächsten Projekte, was steht an? Einzelbände? Beiträge für Anthologien oder Periodika? Auftritte? Legst Du beim Vorlesen selber Wert auf die Performance oder liest Du
lieber klassisch gepflegt im Sitzen? Müssen deine Gedichte expressiv vorgetragen werden oder genügt gediegenes, ruhiges Rezitieren? Wie kann ein Gedicht live am besten wirken?
09.NAHBELLPREISANTWORT
Aktuell arbeite ich an einem Gedichtband; wann der allerdings erscheinen wird, steht noch nicht fest. Fest hingegen steht, dass es im November eine größere Lesung in Wesel geben wird, gemeinsam
mit Nicola Seitz und Silke Vogten. Natürlich werden auch Gastmusiker wieder mit dabei sein. Grundsätzlich bin ich ja zu allen Schandtaten bereit, inzwischen
aber lese ich tatsächlich lieber "klassisch" und ruhig. Expressive Spektakel, Publikumsbeschimpfungen, Quizrunden oder Gummibrüste, die von der Decke regnen, das alles gibt's nicht mehr.
Meiner Erfahrung nach entfalten Gedichte eine Wirkung dann, wenn Abwechslung geboten wird. Eine Lesung verlangt Konzentration und Aufmerksamkeit. Abwechslung und Spannung hält das Publikum
wach. Daher lese ich recht gerne mit anderen zusammen.
10.NAHBELLPREISFRAGE
Ist der Nahbellpreis Dein erster Literaturpreis? Was hältst Du prinzipiell von Preisen? Wollen Preisstifter dadurch nur auf ihren eigenen Verein aufmerksam machen und wählen darum
gerne bereits kürzlich Bepreiste, um mehr Medienaufmerksamkeit zu erhaschen? Hätte Deine Art zu Dichten eine Chance auf den "echten" Nobelpreis? Würdest Du ihn annehmen oder wie Sartre ablehnen?
Warum?
10.NAHBELLPREISANTWORT
Na, es gab Autorenstipendien und sowas, aber einen Literaturpreis, gar für Lyrik, noch nicht. Lyrik ist ja auch nicht sonderlich gängig oder groß angesagt. Selbst der Deutsche Buchpreis ist
ausschließlich Romanen vorbehalten. Was Preise prinzipiell angeht, da halte ich es mit Bukowski: "Ich habe nicht vor, mich auf die goldenen Scheißhäuser der Kultur zu abonnieren." Dass
Preisstifter gleichsam Aufmerksamkeit erhalten, ob sie wollen oder nicht, erachte ich als vollkommen legitim. Immerhin weiß man dann, woher der Wind so weht. Dass meine Gedichte eine Chance auf
den Nobelpreis hätten, wage ich allerdings zu bezweifeln. Thomas Tranströmer wurde für seine "neuen Zugänge zur Wirklichkeit" und Bob Dylan für seine "neuen poetischen
Ausdrucksformen in der amerikanischen Song-Tradition" ausgezeichnet. Derartiges habe ich nicht in petto. Im Falle des Falles würde ich es aber wohl wie Sartre machen: Preis ablehnen, auf die
Dotierung bestehen. Sollte dies nicht möglich sein, würde ich den Preis selbstverständlich annehmen, es gibt schlimmere Listen auf die man geraten kann.
11.NAHBELLPREISFRAGE
Wie viele Gedichte hast Du bis jetzt verfasst? Wenn Du bald sterben müsstest, was wäre noch zu erledigen, um mit gutem Gefühl abzudanken? Gibt es unerledigte Themenstränge,
irgendwelche Felder, die Dein Gesamtwerk vollenden würden? Schwebt Dir irgendwas vor, ohne das Du nicht fertig wärst?
11.NAHBELLPREISANTWORT
Wie viele Gedichte das inzwischen sind - insgesamt? Sorry, keine Ahnung. Ich weiß, dass die erweiterte Neuauflage der "Logik der Verführung" so um die 100 Gedichte enthält, bei den
anderen Bänden dürfte die Anzahl irgendwo zwischen 40 und 80 liegen. Abgesehen davon, was sich in der Schublade befindet, würde dann noch all das hinzukommen, was verstreut so in Anthologien oder
in Fanzines und Underground-Blättern erschienen ist, wobei viele dieser Projekte sehr kurzlebig gewesen sind und die Titel heute kaum mehr greifbar. Mit etwas Glück findet sich davon vielleicht
was im Archiv der Jugendkulturen oder so. Unerledigte Themenstränge gibt's gefühlt haufenweise. Vieles erscheint mir in der Tat wie das Anbringen von Ergänzungen, als permanenter Versuch, eine
Sache präziser oder treffender formulieren oder angehen zu wollen. Mit gutem Gefühl abzudanken scheint mir daher unglaublich schwer. Etwas fehlt immer. Und das, worum es letztlich ging, ohnehin.
Hermann Kurz hat dieses Dilemma in seinem Gedicht "Nachlass" einmal treffend zum Ausdruck gebracht: "Doch was ich mir in mir gewesen, / Das hat kein Freund gesehn, wird keine Seele
lesen."
12.NAHBELLPREISFRAGE
Kannst Du bitte Deine Erkenntnis "Etwas fehlt immer. Und das, worum es letztlich ging, ohnehin." nochmal genauer erläutern? Ich verstehe nicht, worauf Du damit anspielst: worum geht
es (nur Dir oder allgemein?) denn "letztlich"? Im Leben? Oder im Werk? Oder beides? Und inwiefern "fehlt" immer etwas? Du machst mich neugierig, ich liebe solche brutalen existenziellen
Ansagen...
12.NAHBELLPREISANTWORT
Kein Missverständnis: Ohne Mangel, kein Prinzip Hoffnung. Aber so hoch, aufs Utopische, wollte ich auch gar nicht hinaus. Was ich meinte, ist lediglich der Punkt, auf den man hinschreibt, und
dieser Punkt, diese Leerstelle, wenn man so will, ist es, die verfehlt wird. In anderen Worten: es gibt eine gewisse Grundstimmung beim Schreiben, die sich
letztlich nicht beschreiben lässt, die sich den Worten entzieht, wofür Begriffe wie Sehnsucht oder Wehmut etc. einfach nicht ausreichen, eine unbestimmte Empfindsamkeit, für die letztlich die
Worte fehlen. Wo die Worte fehlen, beginnt die Mystik. Man kann diese Leerstelle mit Worten lediglich umkreisen, sich ihr annähern. Und ich denke, dass der ganze multimediale Zauber, der da
mitunter aufgefahren wird, letztlich ein Versuch darstellt, das, was nicht gesagt, was nicht in Worten ausgedrückt werden kann, durch Hinzunahme von Tönen, Bildern usw. ein wenig erfahrbar zu
machen. Ich will das auf keinen Fall verallgemeinern. Ich kann nur über mich sprechen und über meine Erfahrungen als Autor und Leser. Eine Zeitlang dachte ich, dass es sich bei
diesem Gefühl, dieser merkwürdigen Art von luftiger Melancholie, vielleicht um das Bewusstsein der Vergänglichkeit handeln könnte, weshalb man in Gedichten ja mitunter einen Augenblick wie einen
Schnappschuss festhalten möchte. Aber wie gesagt: ich weiß es nicht. Ist das, was fehlt, verloren gegangen? Ist es etwas gänzlich Unbekanntes, das nur noch nicht entdeckt wurde? Ich suche noch.
13.NAHBELLPREISFRAGE
Danke für diese sehr tiefe Antwort. Ich bekam Gänsehaut beim Lesen! Damit skizzierst Du ja ganz nebenbei auch indirekt einen gewissen Kulturbegriff, sowohl psychologisch als auch
literaturtheoretisch. Ich würde unser Interview gerne mit einem Beispielgedicht enden lassen, in dem Du diese "letzten Dinge" umkreist oder Dich der erwähnten Leerstelle so nah wie möglich
annäherst. Fällt Dir dazu ein prägnantes ein? Ich gratuliere Dir herzlich zum 26. Nahbellhauptpreis und wünsche Dir noch ein kraftvolles kreatives Leben und ganz viel Glück und Gesundheit auf
Deinem weiteren Lebensweg. Schön dass es solche unkonventionellen Dichter wie Dich in dieser Epoche der digitalen Langeweile noch gibt!
13.NAHBELLPREISANTWORT
Danke Dir, Tom. Auch ich hoffe, dass Du den Kulturbetrieb mit Deinem Schaffen und Deinen Aktionen noch lange weiter kräftig auf Trab halten wirst. Versuche, mich der Leerstelle anzunähern oder
zumindest die besagte Grundstimmung einzufangen, gibt es so einige. Spontan würde mir da "Ausgezählt" und "Heimlich leise" oder, besser noch, das "Credo eines gefallenen
Engels" einfallen:
Credo eines gefallenen Engels
"Angels are bright still, though the brightest fell." (D. H. Lawrence)
Ich war ein Stern
Und bin jetzt
Nichts
Ich war ein Stern
Ich war wie du
Ich habe Menschen gesucht und
Fand nicht mehr als
Unerfüllte Wünsche
Verstreut
In sämtliche Himmelsrichtungen
überall
Ich habe nach dem Schatz der
Menschheit gegraben
Und nur eine vergiftete Träne
Geborgen
Verschüttet
Unter Beton und Stahl
Irgendwo
Ich habe für Liebe 10 Pfennige
Bezahlt und wurde nicht
Enttäuscht
Einsicht ist eine Tugend
Und ein kaum greifbares Laster
Zugleich
Glaub mir, Mensch
Nicht mehr verstehen
Nicht mehr verstanden werden
Verstehst du
Ein Stern war ich einst
Ich war wie du
Und jetzt
Sieh mich an
Kannst du mich sehen, Mensch
Mit deinen weit aufgerissenen Augen
Du siehst mich nicht
Kannst es nicht
Ich muss mich nicht mehr verstecken
Vor dir
1. Publikationen
Ball & Birne. Zur Kritik der herrschenden Fußballkultur. Mit aus dem Fan-Leben gegriffenen Zeichnungen von Burkhard Fritsche (zus. mit Dieter Bott und Gerd Dembowski), VSA: Hamburg 1998
Also sprach Sepp Herberger. Eine Fußballfibel, Fangorn Verlag: Aldelshofen 1999
Tausend Tüten. Das postmoderne Kiffen (zus. mit Jörg Berendsen), Ventil-Verlag: Mainz 2000
Die neuen Heiligen. Reportagen aus dem Medien-Himmel (zus. mit Gerd Dembowski), 2 Bände, Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2000 und 2001 (2Bände)
Klangmaschine. Pop-Analysen 1 (zus. mit Marcus S. Kleiner), Alibri-Verlag: Aschaffenburg und Lautsprecher-Verlag: Freiburg/Br. 2001
Sex über 40 (zus. mit Jörg Berendsen und Karsten Schley, Tomus-Verlag: München 2003
Radio Derrida. Pop-Analysen 2 (zus. mit Marcus S. Kleiner), Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2003
Der Wille zur Utopie, Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2004
Heterotopie und Erfahrung. Abriss der Heterotopologie nach Michel Foucault, Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2005
Dialektik des Dekolletés. Zur kritischen Theorie der Oberweite, Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2006
Die schöne Verwirrung des Lebens. Gedichte & Cut-Ups, Situationspresse Loeven & Gorny: Duisburg 2013
Charles Fourier. Eine Einführung in sein Denken (zus. mit Andreas Gwisdalla), Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2014
Logik der Verführung. Gedichte, Verlag Dialog-Edition und Verlag Trikont-Duisburg: Duisburg-Istanbul 2016
Der Poet als Lumpensammler. Reportagen und Interviews, Verlag Dialog-Edition und Verlag Trikont-Duisburg: Duisburg-Istanbul 2016
Glam Rock, Bier und Schmuddelfilme. Vierzig Gedichte und eine Zugabe, Verlag Dialog-Edition: Duisburg-Istanbul 2020
Die Melancholie des Teufels. Gedichte, Verlag Dialog-Edition und Verlag Trikont-Duisburg: Duisburg-Istanbul 2021
Hunger und Liebe. Gedichte, Verlag Dialog-Edition und Verlag Trikont-Duisburg: Duisburg-Istanbul 2023
2. Herausgeberschaften
Fritz Lamm: Christus als Standuhr. Ausgewählte religions- und gesellschaftskritische Texte. Aschaffenburg 1998 (Reihe: Klassiker der Religionskritik, Bd. 5)
Fritz Rück und die Revolution 1918. Berichte und Gedichte aus bewegten Zeiten. (zus. mit Wolfgang Haible), Aschaffenburg 1999
Friedrich Hecker: Wie ich die Pfaffen versohlte. Antiklerikale Schriften, Aschaffenburg 1999 (Reihe: Klassiker der Religionskritik, Bd. 6)
Das Universum des Gilles Deleuze. Eine Einführung, Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2000
Kritische Theorie in der Provinz. Heinz Maus (1911-1978) zum 90. Geburtstag (zus. mit Jochen Zimmer), Trikont: Duisburg 2001
Das Foucaultsche Labyrinth. Eine Einführung (zus. mit Gerd Dembowski), Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2002
Lara Croft. Ein Mythos wird dekonstruiert (zus. mit Wolfgang Haible), Reihe: sub:text, Bd. 1, Trikont: Duisburg 2002
Alles Pop? Kapitalismus und Subversion (zus. mit Gerd Dembowski und Deniz Ünlü), Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2003
Das Spiel der Lüste. Sexualität, Identität und Macht bei Michel Foucault (zus. mit Marc-Christian Jäger), Alibri-Verlag: Aschaffenburg 2008
Situationistische Inernationale (zus. mit Bernd Kalus), Reihe: Texte zur Dialektik, Bd. 7, Verlag Trikont-Duisburg und Verlag Dialog-Edition: Duisburg-Istanbul 2016
Lemmy. Eine Hommage (zus. mit Jerk Götterwind), Verlag Trikont-Duisburg und Verlag Dialog-Edition: Duisburg-Istanbul 2017
Störtebeker. Seeräuber, Volksheld, Legende – eine Anthologie, Verlag Trikont-Duisburg und Verlag Dialog-Edition: Duisburg-Istanbul 2017
Charles Fourier: Ein Fragment über den Handel. Übersetzt und mit einer Einleitung und einem Nachwort versehen von Friedrich Engels, Verlag Dialog-Edition: Duisburg 2018
Joseph Dietzgen: Das Wesen der Kopfarbeit. Dargestellt von einem Handarbeiter (zus. mit Bernd Kalus),Verlag Dialog-Edition, Duisburg 2018
Erich Mühsam: Liebe und Revolte. Ausgewählte Gedichte (zus. mit Bernd Kalus), Verlag Dialog-Edition: Duisburg 2019
Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen (zus. mit Bernd Kalus), Verlag Dialog-Edition: Duisburg 2019
Nikolaus Lenau: Der einsame Trinker und andere Gedichte, Verlag Dialog-Edition: Duisburg 2020
Entfremdung – Identität – Utopie (zus. mit Peter Höhmann, Wolfgang Kastrup und Helmut Kellershohn), Unrast Verlag: Münster 2020 (Reihe: Edition DISS, Bd. 45)
Edgar Allan Poe: Der Rabe und andere Gedichte, Verlag Dialog-Edition: Duisburg 2022
3. Audio
Wickie Dub Band: The Frühstück Sessions, Trikont-Duisburg 2000 (CD, Mini-Album)
Klangmaschine – Soundmachine, Ritornell/Mille Plateaux 2002 (Begleit-CD zum Buch Klangmaschine von Marvin Chlada und Marcus S. Kleiner mit Tracks u. a. von Frank Bretschneider, Taylor Deupree und Terre Thaemlitz)
Let's go underground. Live in der Spinatwachtel (zus. Mit Lütfiye Güzel), Situationspresse Loeven & Gorny 2014 (Doppel-CD)
Poems & Songs, Trikont-Duisburg 2014 (MC, Ltd.)
4. Hörspiel
Diskurs – Ende – Leben (zus. mit Marcus S. Kleiner und Stephan Maus), Regie: Leonhard Koppelmann, Produktion: WDR 2002, Erstausstrahlung: WDR 3, Reihe: WDR 3 open: pop drei, 16. Dezember 2002
5. Film
Das Andere im Globalen Dorf. Ein Manifest für Aliens, Dokumentarfilm, Produktion: medienLABORduisburg 2002, Premiere: 26. Duisburger Akzente, Petershalle, 22. Juni 2002
2019: Das G&GN-Institut nimmt Abschied vom 9.Nahbellpreisträger ~ NACHRUF auf Peter Rech 21.5.1943 - 5.12.2019
2020: Das G&GN-Institut bedauert das Ende des Portals FIXPOETRY ~ NACHRUF auf das Engagement von Julietta Fix
2022: Erstmals wird der Nahbell-NEBENPREIS "für den unerwarteten Essay" vergeben - Hintergrund zur EINFÜHRUNG siehe 2021
2023: Das G&GN-Institut kuratiert die Düsseldorfer Lesung "POESIEPANDEMIE: LYRIK LEBT WEITER!" -
LIVE & CLOSE am 12.
Mai
"Ich bin der reichste Mann der Welt! // Meine silbernen Yachten / schwimmen auf allen Meeren. // Goldne Villen glitzern durch meine Wälder in Japan, / in himmelhohen Alpenseeen spiegeln sich meine Schlösser, / auf tausend Inseln hängen meine purpurnen Gärten. // Ich beachte sie kaum. // An ihren aus Bronze gewundenen Schlangengittern / geh ich vorbei, / über meine Diamantgruben / lass ich die Lämmer grasen. // Die Sonne scheint, / ein Vogel singt, / ich bücke mich / und pflücke eine kleine Wiesenblume. // Und plötzlich weiss ich: ich bin der ärmste Bettler! // Ein Nichts ist meine ganze Herrlichkeit / vor diesem Thautropfen, / der in der Sonne funkelt." Arno Holz (1863-1929)
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